330 von knapp 2000 Besuchern können "Parsifal" im Festspielhaus so erleben, wie es Scheib intendiert hat. Mit einer eigens auf ihre Sehbedürfnisse abgestimmten Brille, mit der richtigen Dioptrinzahl und dem korrekten Bügel. Der Aufwand, der dafür betrieben wird, ist enorm. Mehr als 330 ginge sich wahrscheinlich nicht aus.
Aber vielleicht steckt da ja sogar ein ganz raffiniertes Kalkül dahinter: Jene, die "Parsifal" ohne jeden Schnickschnack sehen wollen, können Oper wie vor Jahrzehnten konsumieren. Und jene, die etwas ausprobieren wollen, zahlen einen leichten Aufpreis für die Sitze mit Brille. In Relation wird das sogar passen zu den Verhältnissen innerhalb der Opern-Community, was Traditionalismus und Innovationsfreude betrifft.
Aber was sieht man nun mit dieser Brille? Zunächst Sterne, dann Glühwürmchen, dann größere Tiere, Vögel, viele Schlangen, dann Blumen, dann Waffen, dann Plastikmüll, dann Blut, dann Kometen etceteraetcetera. Tausende Assoziationen, die Scheib zur Musik einfallen und die er in jahrelanger Arbeit mit seinen Studenten programmiert hat. Viele Referenzen an Computerspiele, man wird zu einem Teil der Oper und selbst fast von Speeren getroffen. Und auch Zitate aus Filmen, man fühlt sich wie in "Star Wars" oder - noch mehr - im dystopischen "Mad Max".
Natürlich gibt es auch Interpretation: Etwa dass Religion gefährlich ist und Fanatismus zu Krieg führt; dass Gurnemanz doch nicht nur ein braver Erzähler, sondern auch ein sexuelles Wesen ist; und dass die Erlösung am Ende eine Lüge ist, weil der Gral zerbricht und Krieg zu verlockend ist.
Die Computer-Spielereien haben nebenbei für die Sänger sogar einen Vorteil: Dass sie auf der Bühne wenig machen müssen. Die meiste Zeit wird weihfestspielmäßig gestanden, Action kommt ja aus der Brille. Einen Innovationspreis für Interpretation gewinnt Scheib nicht, aufgrund der in dieser Form bei einem Opern-Großfestival noch nie eingesetzten Technik geht er aber in die Annalen ein. Und lässt andere Klassik-Events ziemlich alt aussehen.
Ob das junges Publikum nachhaltig anzieht oder bestehendes längerfristig bereichert? Wer weiß. Aber es nicht auszuprobieren, ist auch keine Lösung. Und zu "Parsifal", diesem letzten Bühnenwerk von Wagner, das der Welt ohnehin entrückt ist, passt ein solcher Zugang wohl am besten.
Gesungen wird an diesem Opernabend großteils auf Topniveau. Am allerbesten von Elina Garanca als Kundry: mit enormer Dramatik, dennoch stets schön intonierend, mit einer gewaltigen Ausdruckspalette. Diese Partie wird zur Zeit wohl niemand besser gestalten als Garanca bei ihrem Bayreuth-Debüt. Sie durfte am Ende übrigens als Letzte auf die Bühne und ihren riesigen Applaus abholen.
Andreas Schager ist ein fabelhafter Parsifal, der allerdings auch in der Rolle des reinen Tor stets ein bisschen nach Siegfried oder Tristan klingt. Soll heißen, dass er genial ist, wenn er forciert und dass die lyrischen Passagen etwas unterbelichtet bleiben.
Georg Zeppenfeld hatte als Gurnemanz voller Poesie kräftemäßig nicht seinen allerbesten Tag - und ist dennoch eine Topbesetzung. Derek Welton ist ein schön phrasierender Amfortas, ebenso wie Jordan Shanahan als Klingsor agiert er mehr lyrisch denn dramatisch.
Die Blumenmädchen sind solide besetzt, Tobias Kehrer ist ein guter Titurel.
Pable Heras-Casado steigert sich am Pult des klanglich exemplarischen Bayreuther Festspielorchesters im Verlauf des langen Abendes. Der erste Aufzug ist tempomäßig recht geschleppt, nicht fein ausbalanciert und noch emotionsarm. Ab dem zweiten Aufzug ist dieser "Parsifal" auch musikalisch ein Fest. Wenn man genau hinhört und sich nicht von den Eindrücken durch die Brille zu sehr ablenken lässt.
Viel Applaus für alle auf der Bühne und im Graben, für Scheib und sein Team gab es die erwartbaren Buhs.
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