Zu überprüfen ist diese These im Moment an der Pariser Opéra Bastille, wo er Richard Wagners „Lohengrin“ auf die Bühne gebracht hat. Mit einer Kraft, die an seinen „Parsifal“ an der Wiener Staatsoper erinnert und in der Wirkung sogar noch stärker ist. Man hört, dass er bald bei den Salzburger Osterfestspielen, nach der Rückkehr von Kirill Petrenko mit den Berliner Philharmonikern, den „Ring“ inszenieren soll. Falls es dazu kommt, wäre das ein echter Coup von Intendant Nikolaus Bachler.
Der Krieg
Aber bleiben wir an der Pariser Oper, die auch mit dieser Produktion beweist, dass das austro-zentristische Opern-Weltbild, das man in Wien oft hat, nicht immer stimmt. Und nehmen wir als Beispiel, als pars pro toto für die Kernaussage in diesem „Lohengrin“, die Szene im zweiten Aufzug mit dem Chor „Gesegnet soll sie schreiten“, die im Regelfall als Vorgeschmack auf die Hochzeits-Idylle visualisiert wird. Bei Serebrennikow ist die Bühne dreigeteilt: links die Soldaten, die auf ihren Kriegseinsatz warten; in der Mitte das Lazarett mit den Verwundeten; und rechts die Leichenhalle, die Endstation auf diesem zumeist unausweichlichen Weg. Dass die Toten dann auferstehen und wie Zombies von der Bühne wackeln, zeigt, wie verschwommen die Grenze zwischen Leben und Tod im Krieg ist. Verlierer sind alle. Sind wir nun bei diesem „Lohengrin“ in der Ukraine? Nicht nur. Wir sind auch im Ersten Weltkrieg, mit dem der aktuelle Krieg durchaus Parallelen hat. Und bei allen anderen Kriegen. Und wir sind bei der Kopfwäsche von kritischen Geistern – Elsa von Brabant wird von Telramund und Ortrud durch Medikamente gefügig und noch verrückter gemacht, als sie es durch den Verlust ihres Bruders Gottfried im Krieg ohnehin schon ist. Im ersten Aufzug gibt es noch einen Rest von Idylle, sehr poetisch umgesetzt, mit Videos von einer besseren Zeit als Traum der Elsa, mit Tänzerinnen als Alter Egos der Protagonistin, mit Tänzern mit Schwan-Federn als Reverenz an die Stadt des Tanzes und der Liebe.
Von Liebe zwischen Lohengrin und Elsa ist allerdings wenig zu sehen. Der Titelheld wird entheldisiert, er wirkt wie ein dumpfer Erfüllungsgehilfe, der Waffengewalt nicht im geringsten zu hinterfragen scheint. Mit einem klassischen „Lohengrin“ samt Heldenmythos und Gralsritter hat all das nichts zu tun. Aber man schaut fasziniert zu, versucht zu enträtseln, was Serebrennikow an Andeutungen ausgerollt hat und ist mitgerissen von diesem pazifistischen Plädoyer. Viele Regisseure haben „Lohengrin“ schon als Kriegsstück hinterfragt, selten ist das so gelungen wie beim russischen Regisseur.
Der Dirigent
Man ist aber nicht nur gezwungen, genau hinzuschauen, sondern hört auch gerne zu, weil das Dirigat von Alexander Soddy perfekt zu dieser Lesart passt. Der britische Maestro, der gerade dabei ist, große Karriere zu machen, präsentiert einen klanglich fabelhaften, kraftvollen, differenzierten, nie in Pathos abdriftenden und in Hit-Passagen durchaus entschlackten, hinterfragenden „Lohengrin“. Das Orchester geht mit diesem Kapellmeister wunderbar mit, manche Einsätze und Tempi des Chores könnten präziser bzw. synchroner sein.
Die Sänger
Die Besetzung ist erstklassig. Piotr Beczala, der als Lohengrin in Dresden neben Anna Netrebko als Elsa debütiert hatte und auch schon in Bayreuth das Publikum begeisterte, ist ein beeindruckender Schwanenritter, mit klarer Höhe, schöner Phrasierung und etwas Italianità, was zum frühen Wagner ja gut passt.
Johanni von Oostrum ist eine darstellerisch und stimmlich zauberhafte Elsa. Wolfgang Koch singt den Telramund, hier ein Versehrter und eine Art Oberpsychiater, wunderbar, wortdeutlich, mit ausreichend Kraft, aber ohne vordergründige Attacken, mit Noblesse. Auch bei Nina Stemme als dramatischer Ortrud sitzt jeder Ton, eine grandiose Leistung. Kwangchul Youn ist ein ausdrucksstarker, profunder König, Shanyang fehlt es für den Heerrufer etwas an Tiefe.
Diese Produktion zählt insgesamt zum Spannendsten, was man zuletzt im Wagner-Fach sehen konnte. Und sie ist szenisch so viel besser als der „Lohengrin“ von Jossi Wieler/Sergio Morabito, der im April 2024 von den Salzburger Osterfestspielen an die Staatsoper übersiedelt.
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