Niemeyer: Architekt der vergangenen Zukunft

Niemeyer: Architekt der vergangenen Zukunft
Nachruf: Oscar Niemeyer, weltberühmt durch seine Bauten für Brasilia, ist mit 104 Jahren gestorben

Brasília war die großeUtopie des 20. Jahrhunderts. Eine Metropole aus der Retorte.
Oscar Niemeyer hat Brasiliens Hauptstadt zwischen 1957 und 1964 geplant. Alle öffentlichen Gebäude in der auf dem Reißbrett entstandenen Stadt für 500.000 Menschen stammen aus seiner Hand. 1987 wurde Brasília von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt.

Kühle Rundungen

Brasília mit seinen beein­druckend kühnen Bauten und klaren Linien hat ihn zu einem der bedeutendsten Architekten der Moderne gemacht. In der Nacht auf Donnerstag ist der Brasilianer mit 104 Jahren in seiner Heimatstadt Rio de Janeiro gestorben.
Dort 1907 geboren, ging er bis zuletzt fast täglich in sein Büro, zugleich Werkstatt, im 10. Stock eines älteren Gebäudes mit geschwungenem Balkon an der Avenida Atlantica in Copacabana.
Niemeyer hat Bauten in Frankreich und Italien entworfen, aber auch eine Universität und Moschee in Algerien, die an die Wunderlampe Aladdins erinnert.

Museum als Raumschiff

Spektakulär sind auch sein augenförmiges Museum in Curitiba und das 1991 realisierte Museum für moderne Kunst in Niterói – hoch über der Bucht von Guanabara vor dem berühmten Pano­rama von Rio de Janeiro.
Wie ein rundes Raumschiff, zum dem eine imposante Rampe führt, thront das Museum auf einem Fels.
Architektur entwerfen bedeute Schönheit schaffen, sagte der Brasilianer. Rechtwinklige Geometrie überwindet er mit kühnen Rundungen. So leben seine Bauten von beschwingter Eleganz – vor allem von den Kurven. Immer wieder verglich Niemeyer seine Kunst mit dem Streicheln einer geliebten Frau.
Das Ideal des leidenschaftlichen Zeichners der gebogenen, gekrümmten, geschwungenen und geschweiften Linie waren
großzügige, in die Natur gegossene, ja vielleicht sogar poetische Häuser. Der Einfluss der europäischen Architektur, des strengen und platzsparenden Funktionalismus eines Le Corbusier wurde bei Niemeyer über die Jahrzehnte immer schwächer.

Die Natur als Vorbild

Gleichzeitig erkannte er im Eisenbeton das adäquate und fast beliebig formbare Material für seine an der Natur wie am menschlichen Körper orientierten Baukörper und Raumvorstellungen:
„Das Wichtige für einen Architekten ist die Fantasie … Eisenbeton erlaubt denen, die einen Sinn für Poesie besitzen, sich auszudrücken.“
Niemeyer sah seine Aufgabe darin, überraschende Werke von großer Schönheit zu bauen, um die Menschen damit zu erstaunen. Sein Credo: Form follows beauty.
Als bekennender Kommunist träumte er von einer gerechteren Welt und sagte: „Wenn mir die USA mal wieder ein Visum verweigern, weiß ich wenigstens, dass ich noch auf der richtigen Seite stehe. Ich träume von einer Welt, in der es gerecht zugeht und alle Menschen gleich sind.“
„Die Architektur ist unwichtig. Sie ändert nichts“, sagte Niemeyer, der ihre ideologischen Grenzen schon mit Brasília erkannte. „Der Mensch muss in den Himmel schauen und verstehen, dass er nichts bedeutet. Er wird geboren, um zu sterben. Dieses Problem wird sich nie lösen lassen. Darum muss das Leben doch intensiv gelebt werden, nicht wahr?“ Er habe immer die Leidenschaft gesucht, die Überraschungen. „Wenn die fehlen, wird es langweilig. Ich habe viel gekämpft, aber auch viel gefeiert, häufig recht ausgelassen.“

Oscar Niemeyer (1907–2012), ein Klassiker des 20. Jahrhun- derts, wurde durch seine Bauten für Brasilia weltberühmt und ließ sich zeitlebens von Frauen und ihren Kurven inspirieren.

Lebenswerk
Rund 200 seiner mehr als 500 Projekte wurden gebaut, u. a. das UN-Gebäude in New York (1947) und ein Apartmenthaus für das Hansaviertel in Berlin (1957). Während der Militärdiktatur (1964–1985) mit Arbeitsverbot belegt, baute er im Exil weiter: In Israel, Algerien, Frankreich und beim Wiederaufbau der durch Erdbeben (1972) und Bürgerkrieg zerstörten Hauptstadt Nicaraguas.

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