Wobei weniger der Titel als der Untertitel auf die richtige Spur führt: „Die neue moralische Unordnung“. Es ist eine Abrechnung mit den Glaubenssätzen des juste milieu, mit dem neuen Totalitarismus, der den öffentlichen Diskurs zunehmend unterwandert. „Ich habe mich geweigert, mich den Entwicklungen zu fügen, die uns im Namen des Fortschritts mitreißen wollen“: So erklärt der französische Starintellektuelle, warum er sich „vom ‚Linkssein‘ abgewandt“ hat.
Kein Bereich bleibt bei dieser sprachlich leichtfüßigen, analytisch messerscharfen Tour d’horizon ausgespart. Unzählige prägnante Sätze finden sich da, die man eigens hervorheben möchte, wie etwa diesen: „Die politische Korrektheit ist die gigantische Bemühung, das krumme Holz, aus dem der Mensch gemacht ist, gerade zu biegen.“
Finkielkraut zeigt, wie die Gegenbewegungen zu Diskriminierung, Unterdrückung, Rassismus selbst wieder totalitäre Züge annehmen. Das gilt für die Gender- und die Metoo-Debatte genauso wie für jene über Migration und Islam. Letztlich, so schreibt Finkielkraut, sei es „das Ziel des neuen Antirassismus, das Abendland innerhalb seiner eigenen Grenzen abzuschaffen“. Das einstige europäische Überlegenheitsgefühl sei längst umgeschlagen: „Das schlechte Gewissen im Westen geht so weit, dass sich der Wunsch, am Sein festzuhalten, in den Wunsch umkehrt, nichts zu sein, um nie wieder jemanden auszuschließen oder zu misshandeln.“
So freilich – und damit sind wir wieder bei Martensteins Vorwort – schafft sich Europa selbst ab. Dagegen, gegen „eine gefährlich entfesselte Selbstkasteiung, gegen die „hemmungslose Tugend“ des „schlechten Gewissens“, fordert Finkielkraut lapidar: „Nicht nur der Stolz, auch die Demut braucht Grenzen.“
Nur scheinbar im Widerspruch dazu steht eine vom Autor diagnostizierte geschichtslose Selbstgerechtigkeit: „Die Gegenwart wird niemals selbst beurteilt, sie ist es, die urteilt, die Unrecht beseitigt […], sie überträgt ihre makellosen Einsichten auf das Erbe der Jahrhunderte […]“
Analog dazu auch Finkielkrauts Einschätzung der Klimabewegung, deren Anliegen er keineswegs kleinredet. Was ihn freilich irritiert, ist die inszenierte „Konfrontation zwischen einem lebensbedrohlichen Übel und dem Guten, das ihm mit der ganzen Macht der Unbestreitbarkeit entgegentritt“. Gerade den Jungen fehlten die „Worte, die ihnen die Augen für die komplexe und vielfältige Wirklichkeit öffnen würden“. Eine Kritik, die sich nicht zuletzt an Lehrer richtet, die sich lieber dem Zeitgeist anbiedern und bei Schülern beliebt machen wollen, als ihrer eigentlichen Aufgabe nachzukommen.
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