"Radetzkymarsch" ohne Dirigent

Dieses Konzert war bedeutend besser und gehaltvoller als sein erstes im Jahr 2009. Damals hatte man noch den Eindruck, er sei in seinem Bemühen, tänzerische Leichtigkeit zugunsten der musikalischen Substanz zu opfern, weit weg von einem plausiblen Ergebnis. Diesmal darf man getrost konstatieren: Es hätte im Jahr 2014, in dem des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren gedacht wird, keinen besseren Dirigenten für das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker geben können als Daniel Barenboim, den großen Maestro und ebenso großen Humanisten und politischen Kopf.
Am Ende seiner musikalischen Reise mit dem (auch) in diesem Repertoire unübertrefflichen Orchester gab es im Musikverein Jubel des internationalen Publikums, für das Fotografieren mit dem iPad offenbar schon zum fixen Bestandteil eines Konzertbesuches zählt.
Vermittler

Das Programm war diesmal perfekt zugeschnitten auf den Friedensbotschafter Barenboim, der ja auch ständig bemüht ist, Grenzen zu überschreiten und vermittelnd zu agieren. Ebenso wie die Sträuße, die mühelos musikalische Gegensätze überwinden konnten, wie auch Otto Biba in seinen exzellenten Texten im Programmheft nachweist. Die – vonBarenboim und Philharmoniker-Vorstand Clemens Hellsberg – ausgesuchten Stücke waren so gut wie allesamt gehaltvoll, gewichtig, inhaltlich und musikalisch passend für den pazifistischen Appell.
Es begann, erstmals in der Geschichte des Neujahrskonzertes, mit einer Quadrille: von Eduard Strauß für die schöne Helena. Die ist zwar eine bloße Aneinanderreihung verschiedener Motive, in ihrer Rasanz jedoch gut geeignet zum Wachrütteln nach einer möglicherweise intensiv zelebrierten Nacht.
Schon das zweite Stück wurde zu einem der zahlreichen Höhepunkte des Konzertes: der Walzer „Friedenspalmen“ von Josef Strauß, der Bezug nimmt auf die Schlacht von Königgrätz und den Wiener Philharmonikern Gelegenheit gab zur Entwicklung phänomenaler Klangfarben, die – gerade im Vorspiel – jenen von Wagner oder Richard Strauss später entwickelten um nichts nachstehen. Dass Josef Strauss mit insgesamt sieben Stücken (inklusive der Zugabe „Karriere“) so stark präsent war, zählt zu den weiteren Vorzügen des Programmes.

Auch die Gestaltung von dessen „Dynamiden“-Walzer wurde zu einer Sternstunde. In diesem Stück kommt erstmals jenes Thema vor, das Richard Strauss 46 Jahre später für den Ochswalzer in seinem „Rosenkavalier“ verwendete. Richard Strauss selbst, der vor 150 Jahren geborene Jahresregent, wurde mit der „Mondscheinmusik“ aus „Capriccio“ gewürdigt. Wenn man beckmesserisch sein will, passte dieses Werk nicht ideal an diesen Platz, obwohl es erfreulich ist, dass erstmals Strauss-Klänge bei diesem Anlass zu hören waren. Dass ein Hornist am Ende eines sonst präzisen Solos kurz eine Unsauberkeit hören ließ, war rasch vergessen.
Manche der Polkas wurden von Barenboim geradezu humoristisch schnell gestaltet. Richtige Scherze während des offiziellen Programmes waren aber von ihm ohnehin keine zu erwarten gewesen – eine Ernsthaftigkeit, die gut zum Anlass passte.
Vor dem „Donauwalzer“, den er kultiviert, die wienerischen Rubati, Accelerandi und Ritardandi durchaus zelebrierend, erklingen ließ, überreichte er Rosen an Philharmonikerinnen.
Weltpremiere

Beim „ Radetzkymarsch“ verzichtete er als Erster überhaupt aufs Dirigieren und schüttelte stattdessen jedem einzelnen Musiker die Hand – auch das eine geniale Friedensgeste. Wenn er gestaltend eingriff, dann nur, um das Mitklatschen zu beenden. Die leisen Töne waren es, die das ganze Konzert hindurch so wichtig waren. Mögen sie lautstark gehört werden.
KURIER-Wertung:
Info: Der ORF zeigt das gesamte Neujahrskonzert auf seiner TVThek.
Im Schnitt sahen 1,154 Millionen Musikinteressierte den zweiten Teil des Neujahrskonzerts, was 63 Prozent Marktanteil entspricht. Auch der erste Konzertteil war mit durchschnittlich 883.000 Zuschauerinnen und Zuschauern bei 60 Prozent Marktanteil sehr gut genutzt. Mit dem von Felix Breisach gestalteten ORF-Film "Backstage" blickten in der Konzertpause durchschnittlich 1.064.000 bei 64 Prozent Marktanteil - ebenfalls Rekord seit 2011 - hinter die Kulissen des Großereignisses. Der Spitzenwert lag bei 1,166 Millionen.
Wer das Neujahrskonzert 2014 am 1. Jänner noch nicht genießen konnte, hat noch zweimal die Möglichkeit dazu: Am Sonntag, dem 6. Jänner, bringt ORF 2 in der "matinee" um 10.00 Uhr ein Dakapo. Eine weitere Reprise steht bereits am Samstag, dem 4. Jänner, um 20.15 Uhr in 3sat auf dem Programm.
In den „sozialen Medien“ wurden Stilfragen erörtert: „Dancing Stars“-Sporttanz beim Neujahrskonzert? Schottenkaro-Punk von Vivienne Westwood? Und: Ein Dirigent mit offenem, unbeschlipsten Hemdkragen – ist das alles überhaupt erlaubt?
Viel wichtiger war die Botschaft, die Daniel Barenboim – als Politiker sicher nicht weniger begabt denn als Dirigent – und die wieder einmal hinreißenden Wiener Philharmoniker vom Musikverein aus in die ganze Welt schickten: Das ganze Programm lässt sich als einziger Friedens-Appell lesen – eine wichtige Geste zu Beginn jenes Jahres, in dem man an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren erinnert.
Barenboim, der sich seit Jahren für eine Verständigung im Nahostkonflikt einsetzt und israelische und palästinensische Musiker in einem Orchester zusammengeführt hat, gelang auch ein kreativer Umgang mit dem martialischen „Radetzkymarsch“: Er verzichtete darauf, das Stück zu dirigieren und reichte stattdessen jedem einzelnen Musiker die Hand – ein starkes Zeichen.
Bereits zum zweiten Mal zum Neujahrskonzert eingeladen, erwies sich der britische Choreograf Ashley Page (57) erneut als Glücksbringer.
Bis zur Ausstrahlung der Wochen zuvor im Stadtpalais Liechtenstein mit dem Wiener Staatsballett gedrehten Tänze, dominierte in den Ankündigungen das fraglos spannende Designer-Duo Vivienne Westwood & Andreas Kronthaler.
Fräckchen
Wer verpasst einem Herrn für den Walzer schon ein weißes weiches Fräckchen, versteht es, den Schwebefluss der Tänzerinnen mit luftigen Ball-Hüllen zu beflügeln? Und dabei immer mit Kenntnis, Witz und Innovation das britische Empire und die europäische Mode weiterzutreiben?
Ein Augenschmaus.
Spiel
Dem steht der Choreograf Ashley Page, der wohl mit seiner für Ende April geplanten „Reigen“-Uraufführung in der Volksoper mehr Rampenlicht genießen wird, um nichts nach. Er weiß mit der Sprache des klassisch-akademischen Balletts kreativ umzugehen und spielt sich – wie schön – musikalisch und bewegungstechnisch detailreich mit den gar nicht einfachen Vorlagen.
Zu Josephs Lanners „Die Romantiker“, alles andere als ein typischer Tanz-Walzer, gibt er jedem der fünf Paare, im Fernseh-Bild – angeführt von Ketevan Papava und Eno Peci – einen eigenen Charakter. Britische Noblesse fließt da mit der einfallsreichen, eleganten Bildregie von Michael Beyer in den renovierten Prunkräumen zusammen.
Ob Page bei seiner Inszenierung der „Pizzicati“-Variation von Léo Delibes aus dem Ballett „Sylvia“ (1876) an seinen Lehrmeister Frederick Ashton gedacht hat? Dessen „Sylvia“ erfreut sich neuen Interesses.
Frivol
Als „Bäumchen wechsel dich“-Spiel kommt die Polka jedenfalls bei Page daher: Frivol, amüsant und spritzig in Westwoods Schottenkaro mit Popo-kurzem Cul-de-Paris-Zitat für „Jägerin“ Irina Tsymbal und Maria Yakovleva.
Vergnüglich anekdotisch Kilt-Tänzer Peci, gefolgt von Kirill Kurlaev.
Tanzsport?
Dass das Turnier-Paar Kathrin Menzinger und Vadim Garbuzov – bekannt als „Profi-Tänzer“ aus der erfolgreichen Fernsehshow „Dancing Stars“ – exzellent Wettbewerbs-Donauwalzer tanzt, steht außer Frage. Dass der ORF aber in seiner einzigen tänzerischen Live-Darbietung auf Leistungssport setzt, ist unverständlich.
KURIER-Wertung:
(Andrea Amort)

Komponist | Stück | |
Eduard Strauß | "Helenen Quadrille" | op.14 |
Josef Strauß | "Friedenspalmen Walzer" | op.207 |
Johann Strauß Vater | "Carolinen Galopp" | op.21a |
Johann Strauß Jun. | "Ägyptischer Marsch" | op.335 |
Johann Strauß Jun. | "Seid umschlungen, Millionen" (Walzer) | op.443 |
Johann Strauß Jun. | "Stürmisch in Lieb’ und Tanz" (Polka) | op.393 |
Johann Strauß Jun. | Ouvertüre zu "Waldmeister" | |
Johann Strauß Jun. | "Klipp Klapp" (Galopp) | op.466 |
Johann Strauß Jun. | "Geschichten aus dem Wiener Wald" (Walzer) | op.325 |
Joseph Hellmesberger Jun. | "Vielliebchen" (Polka) | op.1 |
Josef Strauß | "Bouquet" (Polka) | op.188 |
Richard Strauss | "Mondscheinmusik" aus "Capriccio" | |
Joseph Lanner | "Die Romantiker" (Walzer) | op.167 |
Josef Strauß | "Neckerei" (Polka Mazur) | op.262 |
Josef Strauß | "Schabernack" (Polka) | op.98 |
Leo Delibes | Pizzicati aus dem Ballett "Sylvia" | |
Josef Strauß | "Dynamiden (Geheime Anziehungskräfte)" (Walzer) | op.173 |
Josef Strauß | "Ohne Sorgen" (Polka) | op.271 |
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