Musikverein: Eine Dirigentin mit Gespür fürs Wesentliche

Musikverein: Eine Dirigentin mit Gespür fürs Wesentliche
Karina Canellakis mit dem London Philharmonic Orchestra im Musikverein. Der Geiger Christian Tetzlaff widmete seine Zugabe Nawalny.

Von: Susanne Zobl

Diskussionen, ob eine Frau oder Mann am Pult stehen soll, werden bei den Konzerten von Karina Canellakis obsolet. Bei der gebürtigen Amerikanerin zählt einzig die Qualität, wie bei ihrem Gastspiel mit dem London Philharmonic Orchestra im Wiener Musikverein zu erleben war, wo der Tochter eines Dirigenten und einer Pianistin in dieser Spielzeit ein Schwerpunkt gewidmet ist. Zurecht. 

Seit 2019 ist sie Chef­di­ri­gentin des niederländischen Radio Filhar­mo­nisch Orkest (RFO), seit 2021 Erste Gastdirigentin des London Philharmonic Orchestra, das ihren Vertrag um weitere drei Jahre verlängert hat. Die Briten wissen, was sie an ihr haben. Eine Frau, die gezielt das Wesentliche eines jeden Werks herausarbeitet. 

Mit dem Vorspiel zur Oper „Chowanschtschina“ lud sie zum Schwelgen in Klanggemälden ein. Außerordentlich geriet Dmitrij Schostakowitschs erstes Violinkonzert in a-Moll. Das lag zunächst daran, dass die Dirigentin einfühlsam zwischen Orchester und ihrem Solisten, dem Geiger Christian Tetzlaff, vermittelte. Mit dem herben Klang seiner Geige stimmte er in die tiefen Streicher ein, ließ verstörend schöne Kantilenen hören. Phänomenal tobte er sich im zweiten Satz aus. Das mutete wie ein wahrhaftiger Trotz an. Man konnte in diesen Passagen spüren, wie sich der Komponist mit den schroffen Akkorden gegen das Regime Stalins zur Wehr zu setzen versucht. Tetzlaff spielte mit einem virtuosen Furor, den er im Finalsatz feinnervig fortsetzte. Seine Zugabe widmete er dem kürzlich verstorbenen russischen Regime-Kritiker Nawalny. 

Mit ihrer Interpretation der „Vierten“ von Johannes Brahms ließ Canellakis aufhorchen. Sie setzte pointierte Akzente, aber nie auf übertriebene Effekte. Ihr Orchester folgte ihr spielfreudig mit Hingabe. Herzliche Ovationen!

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