Neues Album von Nick Cave & The Bad Seeds: Vertonte Lebensberatung
Nick Cave hat wieder seine Mitte gefunden – und seinen Glauben. Nachzuhören ist das auf seinem neuen, großartigen, mit The Bad Seeds eingespielten Album „Wild God“
Wer in den vergangenen zwei Jahren das Glück hatte, Nick Cave live zu sehen, konnte beobachten, dass der in England lebende australische Musiker in einer bestechenden Form ist. Musikalisch. Körperlich. Mental. Die Therapie scheint zu wirken: Cave hat wieder seine Mitte gefunden, Gott vergeben, die Trauer überwunden und Hoffnungsschimmer im Herzen.
Diese wiedergewonnene Zuversicht, so der Eindruck bei seinen Auftritten, wollte er weitergeben – dazu suchte er von Minute eins an die Nähe zum Publikum. Er präsentierte sich wie ein Wanderprediger, ein Wunderheiler, den man nur berühren muss, damit es einem besser geht, einem die Last von den Schultern genommen wird. Und Nick Cave ließ sich in Sachen Körperkontakt auch nicht großartig bitten: Er nahm Hände in die Hand, Vollbäder in der Menge, umarmte die ersten Reihen, verteilte Nasenbussis und Streicheleinheiten: „Into my arms“. Kommt in meine Arme.
Diesen Schwung nahm der 66-Jährige mit auf seine neue Platte mit dem Titel „Wild God“, die heute, Freitag, erscheint. Es ist bereits das 18. Album des Songwriters, das er mit seiner langjährigen Stammband, The Bad Seeds, die er 1983 ins Leben gerufen hat, aufgenommen hat.
Wandel
Gemeinsam hat man bereits viel erlebt, zahlreiche Verwandlungen hinter sich gebracht. In all den Jahren und mit all den Rückschlägen, die es zu überwinden galt, gab es Phasen, in denen der Output mal rockiger und giftiger, mal sanfter und balladiger, mal experimenteller und spiritueller, mal poppiger und poetischer ausgefallen ist. Abgefallen sind dabei auch zahlreiche Hits wie „The Ship Song“ (1990) oder „Where The Wild Roses Grow“ (1995) mit Kylie Minogue. Mit dem neuen und zehn Songs umfassenden „Wild God“ kehrt man nach einer Phase der teilweise etwas trägen Klangforschung („Ghosteen“, „Skeleton Tree“) zu einer hymnischen, aufwühlenden und zart rockenden Musik zurück.
Die Platte startet mit „Song Of The Lake“ gleich einmal druckvoll. Das Schlagzeug ist präsent, der Bass treibt gut an. Es gibt auch keine Zeit zu verlieren – denn die Glocken läuten schon: Kinder, die Messe fängt gleich an!
Lebensgeister
Nick Cave hat nach dem Verlust zwei seiner Söhne (2015 stürzte sein 15-jähriger Sohn Arthur im LSD-Rausch von den Klippen, 2022 verstarb mit Jethro ein weiterer Nachkömmling aus einer früheren Beziehung) die Trauerarbeit für beendet erklärt.
Die Lebensgeister sind zurück. Endlich hat der Schlagzeuger Thomas Wydler, neben Cave das dienstälteste Mitglied der Bad Seeds, wieder einen Auftrag und muss keine Knopferln mehr am Drumcomputer drücken. Das Titelstück „Wild God“ schaukelt sich langsam hoch und explodiert im letzten Drittel: Es rasselt, die Chöre jubilieren und Cave fleht den Heiligen Geist an: „Bring your spirit down“. Die Menschheit ist anders nämlich nicht mehr zu retten. In „Joy“ erzählt Nick Cave vom Blues, der sich hin und wieder bei ihm nach dem Frühstückskaffee einstellt. Dazu ertönen Jagdhörner und signalisieren so etwas wie Aufbruchsstimmung, im Hintergrund raschelt es, liefern Keyboards sphärische wie dichte Klangwolken und Cave kniet vor dem Allmächtigen – so lässt es sich auch besser um Vergebung bitten: „Mercy!“ Ein Wort, ohne das keine seiner Platte auskommt.
Auf „Wild God“ verarbeitet Nick Cave textlich eine enorme Bandbreite von Emotionen: Angst, Ekel, Schrecken, Trauer, Wut und so weiter. Die Bad Seeds liefern dazu die passenden Klangbilder, die diesen Gefühlscocktail verstärken. Bereits nach den ersten vier Songs kann man ein Resümee ziehen: Das klingt großartig und anders als das, was Cave in den vergangenen Jahren so abgeliefert hat. Die Platte spiegle den emotionalen Zustand der Musiker wider, die sie eingespielt haben, so Cave. „Wenn ich mir das hier anhöre, scheint es, als wären wir glücklich.“
Weiter gehts mit mysteriösen Märchenwelten in „Cinnamon Horses“, schmerzerfüllten Liebesbekenntnissen und Momenten der Einkehr und Ruhe. Vor dem berührenden Gospel-Finale mit „As The Waters Cover The Sea“ folgt das wunderbare „O Wow O Wow (How Wonderful She Is)“, ein Tribut an die 2021 verstorbene Anita Lane, ehemalige Bandkollegin und Ex-Partnerin von Nick Cave.
„Wild God“ ist eine optimistische, fast schon sonnige Platte. Die Trauer und Zerrissenheit vergangener Tage sind zwar nicht verschwunden, aber das Leben kann auch gut zu einem sein. Und mit einem Lächeln im Gesicht ist es auch erträglicher. Außerdem weiß man ja nicht, was der „Wild God“ noch so mit einem vorhat ...
Zur Person: Nick Cave, 1957 in Australien geboren, steht seit über 40 Jahren auf der Bühne, u. a. als Songwriter und Sänger von Nick Cave & The Bad Seeds. Caves Werk umfasst verschiedene Disziplinen, wie etwa Filmmusik und diverse Romane – bei Kiepenheuer & Witsch erschien zuletzt „Glaube, Hoffnung und Gemetzel“ mit 40 Stunden persönlicher Gespräche zwischen Nick Cave und Sean O’Hagan. Auf seiner Website theredhandfiles.com sucht Cave direkten Kontakt zu seinen Fans.
Live: Nick Cave & The Bad Seeds haben bisher noch keine Konzerttermine in Österreich bestätigt. Mehr Infos zur aktuellen Tour finden Sie unter nickcave.com
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