Nach 165 Jahren: Erstmals eine Dirigentin im Abo der Wiener Philharmoniker

Am 15. Jänner 1860 begann in Wien eine jener Kulturtraditionen, über die sich die Stadt bis heute definiert: Beim ersten Abonnementkonzert der Wiener Philharmoniker – damals noch in der k. k. Hofoper – erklangen Werke von u. a. Mozart, Beethoven und Berlioz (letzterer war damals übrigens „zeitgenössische Musik“). Die Konzerte wurden dann im Musikverein zur Institution des Kulturlebens und zum gesellschaftlichen Fokuspunkt einflussreicher Kreise. Wer ein Abo abschließen will, muss sich oft ein Jahrzehnt oder mehr gedulden.
Das erste Konzert dirigierte Carl Eckert. Und auch er begründete eine eigene Tradition: Die Abokonzerte wurden seither immer und ausschließlich von Männern dirigiert.
Diese über 165 Jahre zunehmend aus der Zeit gefallene Tradition endet – und zwar dieses Wochenende.
Denn dann steht erstmals in der Geschichte der Philharmoniker-Abokonzerte eine Frau am Pult: Mirga Gražinytė-Tyla leitet das neunte Abokonzert der laufenden Saison. Eine überfällige Premiere.
Späte Öffnung
Denn in Wien gehen die Uhren in der Frage der Musikerinnen und Dirigentinnen in der Klassikwelt wirklich noch anders: Spät erst – als in anderen Spitzenorchestern längst viele Frauen spielten – entwickelten sich die Philharmoniker weg vom reinen Männerorchester. Nach dem Antritt von Orchestervorstand Clemens Hellsberg wurde 1997 die erste Frau offiziell in den Verein aufgenommen – die Harfenistin Anna Lelkes.
In den Jahren davor hatte es bei Tourneen und auch anlässlich der weltweit übertragenen Neujahrskonzerte stets viel Kritik am Männerverein gegeben. Lelkes allerdings kannten TV-Seher schon vom Zuschauen: Sie saß jahrelang immer wieder an der Harfe. Beim Neujahrskonzert schienen überhaupt mehr Frauen besetzt als im regulären Philharmonikerbetrieb.
Gerade dieses Konzert aber wirft auch ein Schlaglicht auf die Zögerlichkeit, mit der das Orchester den Dirigentinnen begegnet: Viele Männer – von Barenboim bis Thielemann – haben das Prestigekonzert bereits x-fach geleitet. Eine Frau aber durfte am 1. Jänner noch nie ans Pult. Hier steht nun Gražinytė-Tyla in der Poleposition: Denn ein Neujahrskonzert zu dirigieren, ohne zuvor beim Abokonzert geglänzt und gute Stimmung beim Orchester gemacht zu haben, das war bisher ausgeschlossen. Eine Tradition besagt nämlich, dass die Philharmoniker ihren Dirigenten stets aus dem erlesenen Kreis der Abo-Maestri küren.
Weitergedreht
Jedenfalls hat sich der Klassikbetrieb längst – auch in Wien – weitergedreht, und Frauen am Pult sind keine Seltenheit mehr. Wobei: Allzu lange ist auch die Premiere einer Frau bei den Bayreuther Festspielen nicht her: Die Ukrainerin Oksana Lyniv debütierte 2021 bei Wagners „Der fliegende Holländer“. Jene Frau, die schon am längsten weltweit gefragt und auch in Wien etabliert ist, ist die Australierin Simone Young. Die allerdings will nicht im Geringsten auf ihr Geschlecht reduziert werden.
Mirga Gražinytė-Tyla, die in Österreich zunächst künstlerische Akzente in Salzburg (Musikdirektorin des Salzburger Landestheaters) gesetzt hatte und im vergangenen Jahr auch zum ersten Mal (am Pult der Wiener Philharmoniker) eine Oper bei den Salzburger Festspielen dirigierte, war beim City of Birmingham Orchestra zum Pultstar geworden.
Mirga Gražinytė-Tyla am Pult der Wiener Philharmoniker (was für ein klanglich ideales Werk für dieses Orchester!) lotet all die Feinheiten raffiniert aus, schafft eine ideale Balance zwischen Orchestergraben und Bühne und ist eine große Erzählerin dieses Stoffes. Eine musikalische Vorleserin am Pult.
Aus der KURIER-Kritik.
In Wien dirigiert die 38-jährige Litauerin nun Tschaikowskys Konzert für Klavier Nummer 1 mit Yuja Wang sowie Töne aus dem Norden: Es erklingen Werke von Jean Sibelius und der Litauerin Raminta Šerkšnytė.
Ob es auch sie sein wird, die die Männertradition beim Neujahrskonzert beendet? Am Wochenende dreht sich die Welt jedenfalls auch in Wien ein wenig weiter.
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