47 Jahre ist es her, dass Otto Schenk an der Wiener Staatsoper „Die Meistersinger von Nürnberg“ inszenierte (mit Christoph von Dohnányi als Dirigent und Karl Ridderbusch als Hans Sachs). Das Wiener Publikum hatte also genügend Zeit, sich an die Schenk’sche Katharinenkirche zu gewöhnen, an die staubige Schusterstube und die riesig angelegte Festwiese, auf der Sachs stets Applaus aus dem Zuschauerraum bekam, wenn er einzog.
Seit Sonntag gibt es eine neue „Meistersinger“-Produktion im Haus am Ring, und das ist gut so. Wenn Oper stehen bleibt, wenn sie museal wird, wenn sie keine Risiken eingeht, wenn sie selbstverliebt nur noch im eigenen Saft dahin köchelt, ist es um sie als relevante Kunstform geschehen.
Sobald es jedoch um Erneuerung geht, sobald alte Sichtweisen hinterfragt werden, läuten bei Traditionalisten alle Alarmglocken. Weil sie – aufgrund vieler Erfahrungen nicht zu Unrecht – puren Dekonstruktivismus befürchten oder unmusikalische szenische Zugänge. Umso verblüffender ist es, dass die Premiere in der Regie von Keith Warner besonders gut ankam. Wohl niemand wird sich im Verlauf der fünfeinhalb Stunden nach der Schenk’schen Optik zurückgesehnt haben. Und das hat einen einfachen Grund: Die neue Inszenierung ist hochprofessionell, kurzweilig, die Personenführung fabelhaft – und es stellt sich gar nicht die Frage, ob das traditionell oder modern sei. Das ist ja eines der großen Vorurteile, das es im Musiktheater (und nicht nur dort) gibt: dass alles in eine Schublade passen muss. Warner widerlegt es und zeigt, dass es immer nur um Qualität geht.
Darauf wollte wohl auch Philippe Jordan hinaus, als er im KURIER-Interview nicht nur die Nicht-Verlängerung seines Amtes als Musikdirektor über das Jahr 2025 hinaus bekannt gab, sondern auch Fehlentwicklungen im internationalen Opernfach geißelte. Dass viele Regisseure wenig bis nichts von Musik verstünden und von einer Zusammenarbeit keine Rede sein könne.
Wie das Wiener Opernpublikum dazu steht, wurde bei der „Meistersinger“-Premiere völlig klar: Schon beim Betreten des Orchestergrabens gab es viel Applaus und Bravo-Rufe für Jordan, am Ende wurde er für sein Dirigat bejubelt, und es regnete Blumen für ihn. Diese florale Zustimmung trifft sonst bestenfalls Tenöre oder Sopranistinnen. Dass Jordan diese Akklamation auch bewegte, sah man ihm an.
„Die Meistersinger“ sind genau das richtige Werk, um das Spannungsfeld zwischen Tradition und Innovation auszuloten. Und diese Produktion zeigt, wie gut die Einheit von Bühne und Musik funktionieren kann und dass ästhetische Ansprüche und neue Zugänge einander nicht im Weg stehen müssen.
Der Dirigent
Aber bleiben wir zunächst bei Jordan und der musikalischen Gestaltung durch das fabelhafte Staatsopernorchester. Dem Dirigenten gelingt die schwierige Balance von Präzision, ja geradezu Pedanterie in der Umsetzung musikalischer Details, und emotionaler, klanglich vollendeter Kraft. Die komplexesten Momente, etwa die Prügelszene, sind in seinen Händen bestens aufgehoben, auch melodisch schwierige Szenen wie die Debatte zwischen Sachs und Beckmesser und das Ständchen des Letzteren sind ausgefeilt und mitreißend – ein packendes Musikdrama.
Flieder- und Wahnmonolog des Sachs werden zu einer Demonstration philharmonischer Könnerschaft. Die Festwiese ist nicht im geringsten kraftmeierisch, sondern durchgehend fein strukturiert. Und der Schlussapplaus ist völlig verdient. Falls jemand mehr Pathos will – geschenkt. Qualitativ wird man das kaum besser hören.
Der Regisseur
Die Inszenierung von Keith Warner wirft die Frage auf, was denn an dieser Geschichte des alternden Sachs Traum und was wahr sei. Dieser Zugang überlagert aber nie die hohe Erzählkunst, sondern ermöglicht es dem Regisseur, zwischen zeitgemäßen psychologischen Analysen und historischen Akzenten zu changieren. Wenn es um die Meistersinger geht, wird es bunt und hutmäßig retro mit Nürnberger Vorortcharme. Ansonsten stehen Menschen auf der Bühne, die eine Lösung für einen Konflikt zwischen immer aggressiver werdenden Gruppen suchen. Beim „Wacht auf“-Chor steht Hans Sachs sogar vor seinem eigenen Grab und dem seiner Frau – einen Vermittler wie ihn bräuchte man auch heute, egal ob es um Impf-, Flüchtlings- oder andere aufgeladene Debatten geht, bis hin zum Musiktheater.
Das Bühnenbild (Boris Kudlička) besteht nur aus Vorhängen, ein paar Gerüsten, die verschoben werden, Sesseln und Tafeln für das Gemerk. Aber Warner schafft auch damit sein Zaubertheater. Gut möglich, dass all das für manche zu brav ist – für das Repertoire der Staatsoper, die bei den „Meistersingern“ ja in Dekaden denken muss, passt das genau.
Die Komödie
Dem Regisseur ist aber auch das Komödienhafte des Werkes offenkundig wichtig. Wie er etwa den Beckmesser zeigt, als Schlagersänger, der sich einem Songcontest stellen muss, ist erstklassig. Die politische Komponente und die Rezeptionsgeschichte stehen diesmal nicht im Vordergrund, werden aber auch nicht ignoriert. Beim Schlussmonolog des Hans Sachs, bei dem es ums Deutschtum, Nationalismus und die deutsche Kunst geht und der von so vielen Regisseuren in den Antisemitismus-Kontext gestellt wird, geht Warner lieber den Weg der Poesie: Choristen tragen Bücher oder Partituren mit großen Kunstwerken aus aller Welt. Wenn etwas Gräben wieder schließen kann, dann die Kunst.
Die Sänger
Die Besetzung ist großteils unübertrefflich. Michael Volle ist ein hinreißender Sachs, darstellerisch eins mit der Rolle, sängerisch bis zum Finale traumhaft singend, prachtvoll phrasierend und mit toller Artikulation. Georg Zeppenfeld, stimmlich ein zweiter Sachs, brilliert als Pogner. Und Wolfgang Koch, der dritte Sachs, ist ein Glücksfall von einem Beckmesser. Drei mögliche Sachse auf einer Bühne – ein Geschenk.
David Butt Philipp singt den Stolzing mit schönem Timbre und guter Höhe, manchmal wünscht man sich etwas mehr Volumen. Hanna-Elisabeth Müller ist eine bezaubernde Eva mit ebenso klarer Höhe, Christina Bock eine gute Magdalene, Michael Laurenz ein solider David, Peter Kellner ein seriöser Nachtwächter, auch alle Meister sind gut besetzt.
So gut wie alle wurden vom Publikum gefeiert für einen fabelhaften Opernabend, der auch zeigt, wie gut gerade den „Meistersingern“ englischer Humor statt deutscher Schwere tut.
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