Derart vielen, dass es ohne Reduktion nicht geht. Die beiden Esten strichen daher alle satirische Kritik am Sozialismus beziehungsweise am autoritären Staatsapparat – und konzentrierten sich im Akademietheater auf menschliche Schwächen. Und natürlich auf die Liebesgeschichte zwischen Margarita und dem Dichter, den sie Meister nennt.
Im Zentrum der Produktion, die am Donnerstag Premiere hatte, steht aber, wie bei Bulgakow, der Teufel. In St. Petersburg tötete er, wie wir von Mick Jagger und Keith Richards wissen, den Zar und dessen Minister. Nun macht dieser teuflische Mann, der sich Voland nennt und als „Spezialist für Schwarze Magie“ ausgibt, Moskau unsicher: Wer ihm zu nahe kommt, der wird wahlweise geisteskrank oder kommt unter die Räder.
Semper und Ojasoo halten sich ziemlich exakt an die Vorlage – und sie verknüpfen die Erzählstränge geradezu erstaunlich miteinander. Das Geschehen aber verlegten sie vom Patriarchenteichboulevard in eine coole Zeitungsredaktion der Jetztzeit. Schließlich ist Berlioz Chefredakteur einer Kunstzeitschrift.
Die Arbeitsplätze, ziemlich realistisch ausgestattet, sind hintereinander, wie auf einem Band, angeordnet, dazwischen liegt ein Besprechungszimmer; die Sicht in den Bühnenhintergrund verunmöglichen – nicht ohne Grund – Milchglasscheiben. Sie legitimieren den mitunter zu dominanten Einsatz von Live-Video und geschickt eingefügten Einspielern.
Zunächst glaubt man, Simon Stone habe Regie geführt. Denn auf der Bühne agieren eifrig recherchierende Journalisten – und auf der langgezogenen Leinwand darüber sieht man die Close-ups dazu. Wie im Buch geht es im Gespräch zwischen Berlioz und Iwan um das Konstrukt von der Existenz Gottes. Doch wenn es keinen Gott gibt, dann gibt es auch keinen Teufel, was dieser verständlicherweise nicht zulassen kann.
Auf dem Patriarchenteichboulevard, beim Schlürfen der Marillenlimonade, kann man sich als Fremder gut in die Diskussion einklinken – und mit Visitenkarte vorstellen. In der Redaktion hingegen taucht der Teufel quasi als Deus ex machina auf. Macht nichts. Denn mit seinem Erscheinen als schlecht gealterter Rockstar im knallroten Glitzeranzug plättet Heimkehrer Norman Hacker ohnedies alle. Dieser gelangweilte und zynische Untote bettelt geradezu (vergeblich) um Erlösung.
David-Bowie-Wesen mit Locke im Haar
In seinem Gefolge gibt es leider keinen Korowjew; der Riesenkater Betemoth (Felix Kammerer) ist ein androgynes David-Bowie-Wesen mit Locke im Haar, das sich die Pfote schleckt. Und als Gella, nun Hella, darf Stefanie Dvorak im hautengen Cheerleader-Minikostüm für das Team „Devils 666“ und später, im neongelben Trikot, stripteasetanzend vor allem eines machen: Pin-up-Figur.
Da denkt man unweigerlich an Frank Castorf, bei dem es auch nicht ohne langbeinige Miezen in High Heels geht. Tatsächlich: Mit Fortgang wird es auf der Bühne immer castorfianischer, schräger und greller. Tim Werths zum Beispiel, der blutüberströmte Jeschua mit Dornenkrone, der in der Redaktion als Putzmann schrubbt und saugt, liefert sich gummiartig ohne Rückgrat einen grandios komischen, hoch artistischen Kampf gegen die Tücken des Schubladenrollcontainers.
Zunächst aber führt ganz logisch das eine zum anderen: Betört von Volands Rosenöl verwandelt sich Chefredakteur Berlioz (Philipp Hauß) in Pontius Pilatus, der eigentlich keinen Grund sieht, Jeschua zum Tode zu verurteilen, aber den Mut nicht aufbringt, sich zu widersetzen.
Wenig später erfüllt sich die Weissagung des Teufels: Am Schwarzenbergplatz wird Berlioz von der Straßenbahn überfahren. Worauf der Dichter Iwan (Marcel Heuperman) überschnappt und in die Psychiatrie kommt. Dort parliert er mit einem Dichter, eben dem Meister (Rainer Galke), der einen Roman über Pontius Pilatus geschrieben hat...
Auf der Bühne sind die Gespräche des Prokurators z.B. mit Afranius (Mehmet Atesci) allerdings nicht so prickelnd. Und zusehends wird der Abend, der Raffung geschuldet, zur Nummernrevue. Der Ball des Teufels verkommt gar zum Disco-Videoclip mit nacktem Frauenfleisch und Männern im Frack.
Der Schluss zumindest gehört ganz Margarita (Annamária Láng), die selbstlos und berührend nicht an sich denkt. Nun klärt sich auch, warum Hanna Binder als Frieda, nachdem sie ihren Chef Berlioz gevögelt hatte, ein blaues Tuch erbrach.
Ein starker, bilderreicher Abend.
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