Gefälschte "Spiegel"-Reportagen: US-Kleinstadt schlägt zurück

Faksimile / Meisterhafte USA-Reportage - meisterhaft gefälscht.
Eine Amerikanerin bringt weitere unglaubliche Lügen des preisgekrönten deutschen Reporters ans Licht.

Mit einem Erdbeben anfangen. Und dann langsam steigern. Getreu diesem journalistischen Grundsatz beginnt eine Spiegel-Reportage von Claas Relotius aus dem Vorjahr über die Wähler Donald Trumps im ländlichen Amerika. Gleich im zweiten Absatz wird da ein Schild "aus dickem Holz" beschrieben, das die Bürger von Fergus Falls neben ihrer Ortstafel hätten: "Mexicans Keep Out" – "Mexikaner, bleibt draußen".

So verdichtet Relotius die vermeintliche Gesinnung der US-Provinzler aus Fergus Falls im Bundesstaat Minnesota in einem Bild. Das Dumme nur: Das mexikofeindliche Holzschild gibt es in Wahrheit nicht, wie auch sehr viele andere Dinge, die in Relotius‘ Reportagen für das deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel vorkamen. Das angesehene Medienhaus veröffentlichte am Mittwoch zerknirscht eine Selbstanzeige.

Relotius, vielfach preisgekrönt, erst 33 Jahre alt, habe in "großem Umfang seine eigenen Geschichten gefälscht und Protagonisten erfunden". Aufgedeckt worden sei der Fall nach internen Hinweisen und eigenen Recherchen von RelotiusSpiegel-Kollegen Juan Moreno. Relotius habe die Vorwürfe zugegeben und sein Büro in der Hamburger Redaktion geräumt, hieß es in einer ausführlichen Aufarbeitung auf Spiegel Online.

Eine erste Gegenerzählung seitens der Opfer von Relotius' Dichtungen ließ nur wenige Stunden auf sich warten: Michele Anderson, eine junge Frau aus Fergus Falls, zählt auf der Plattform Medium.com minutiös elf große Themen (und dazugehörig zahlreiche weitere Lügen) auf, bei denen Relotius entweder dreist hinzudichtete oder Sachverhalte völlig erfand.

Die 13.000-Einwohner-Stadt Fergus Falls hatte Relotius nach der Wahl des Republikaners Trump zum US-Präsidenten zwar für mehrere Wochen besucht, um zu beschreiben, wie das ländliche Amerika tatsächlich tickt. Weil das Vorgefundene dem deutschen Journalisten aber offenbar nicht stark genug erschien, entschied er sich für "hemmungslose Fiktion", wie Anderson schreibt. Damals seien die Kleinstädte und Dörfer plötzlich wichtig gewesen, "aber nur weil jeder der heldenhafte Experte sein will, der den Code der ländlichen Psyche knackt", kritisiert Anderson allgemein die Reporter. Was Relotius dann aber gemacht habe, sei "jenseits von allem gewesen, was ich mir vorstellen konnte".

Große und kleine Lügen

Da ist etwa Andrew Bremseth, der City-Administrator: In Relotius' Text hat der damals 27-Jährige nie mit einer Frau zusammengelebt, wolle aber bald heiraten. Er trage immer eine Pistole, Modell Beretta 9mm, und habe noch nie das Meer gesehen. Anderson widerspricht energisch. Sie habe mit Bremseth lange gesprochen, nichts davon sei wahr. Und sie veröffentlicht auf Medium.com ein Foto, das Bremseth mit seiner Langzeitfreundin zeigt – am Meer.

In einem anderen Fall machte der gefallene Reporter aus der Kellnerin Maria Rodriguez eine Restaurantbesitzerin und dichtete ihr eine Nierenkrankheit an. Ihren Sohn namens Pablo taufte er Israel und machte aus dem College-Studenten einen Schüler. Dass dieser von seinen Mitschülern wegen seiner mexikanischen Herkunft gemobbt wurde, sei ebenfalls eine "komplette Lüge" gewesen, schreibt Anderson.

Dann sind da noch viele, scheinbar nebensächliche Märchen in Relotius' Reportage, die vor faszinierenden, dümmlich-bösartigen Figuren wimmelt. Der Titel lautet bezeichnenderweise "In einer kleinen Stadt", wie jener eines verfilmten Romans von Stephen King.

Relotius schreibt in seinem im März 2017 erschienenen Werk etwa, "American Sniper", ein Kinofilm mit Bradley Cooper als Scharfschützen, laufe – obwohl schon 2015 auf den Markt gekommen – in einem Kino nahe Fergus Falls immer noch und erfreue sich regen Besuchs. Dem Musical "La La Land" blieben die waffenverrückten Bürger hingegen fern. Mit einer E-Mail-Antwort des Kinobetreibers weist Michele Anderson nach: Ab Ende Februar 2015 bereits lief "American Sniper", wie in den meisten Orten der USA, kein einziges Mal mehr im Kino.

Noch eine skurrile Doppel-Erfindung: Relotius porträtiert einen vermeintlichen Arbeiter im Kohlekraftwerk - der laut Anderson einen anderen Vornamen trägt und UPS-Fahrer ist - und schreibt weiter: "Man sieht das Kraftwerk, in dem er arbeitet, wenn man im Diner aus dem Fenster sieht, sechs hohe, graue Türme, daraus steigen weiße Dampfwolken." Doch dieses Diner, das Viking Café, kann diese Aussicht gar nicht bieten, wie Anderson ausführt, denn das rund 60 Jahre alte Gebäude habe gar keine Fenster.

Gefälschte "Spiegel"-Reportagen: US-Kleinstadt schlägt zurück

Claas Relotius (rechts) mit dem CNN-Journalist-Award 2014.

"Angst vor dem Scheitern"

Bleibt die Frage, warum der Journalist - bei Weitem nicht nur in diesem Fall - auf so komplexe Weise Figuren und Handlungsstränge erfand oder überhöhte. "Es ging nicht um das nächste große Ding. Es war die Angst vor dem Scheitern", wird Relotius in der Aufarbeitung auf Spiegel Online von seinen Ex-Kollegen zitiert. Er habe auch Reportagen ohne erdichtete Zusätze geschrieben, soll er intern nach seinem Auffliegen beteuert haben. "Wenn es aber hake, sagt Relotius, wenn er nicht weiterkomme, wenn er nicht zu einer Geschichte finde, dann beginne er zu fälschen", heißt es weiter.

Gestolpert ist der Jungstar jedenfalls nicht über die Trump-Wähler aus dem Stück "In einer kleinen Stadt". Sondern über seinen sicherlich letzten Spiegel-Text "Jaegers Grenze". Es geht um eine bewaffnete Bürgerwehr, die an der Grenze des US-Bundesstaats Arizona und Mexiko aufmarschiert. Spiegel-Kollege Moreno stieß auf Ungereimtheiten - und recherchierte Relotius auf eigene Kosten und Risiko hinterher.

Am Donnerstag gab Relotius seine Deutschen Reporterpreise zurück - gleich viermal hatte er die begehrte Auszeichnung bekommen. Relotius meldete sich beim preisstiftenden Reporter-Forum per SMS. Der Spiegel hatte schon am Mittwoch mitgeteilt, der schmerzvolle Fall "stellt Fragen an die interne Organisation, die unverzüglich anzugehen sind".

Journalist Relotius hatte für seine Reportage über die Trump-Wähler in Fergus Falls auch Szenen beim Superbowl-Schauen mit Protagonist Bremseth, einen Western-Abend und eine Fahrt von High-School-Jugendlichen nach New York beschrieben - mutmaßlich allesamt erfunden.

Michele Anderson, die kritische Bürgerin aus Fergus Falls, die all dies nun auflistete, schreibt im Schlussteil ihrer detaillierten Dokumentation, sie sei Relotius damals einmal begegnet, er habe aber nicht mit ihr sprechen wollen. "(…) Ich hätte ihm bereitwillig mein Herz über die Nacht ausgeschüttet, in der ich bei Union Pizza die Wahlen geschaut habe und ich sah, wie meine Kollegen und Freunde vor Furcht und Traurigkeit in Tränen krumm dasaßen, als sie merkten, Trump würde unser nächster Präsident werden."

Der Spiegel-Journalist, der sich mit der falschen Kleinstadt anlegte (Medium.com)

Die "Selbstanzeige" des deutschen Spiegel

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