Zehn Jahre später gewann Scorseses dunkle Komödie „Die Zeit nach Mitternacht“ in Cannes den Preis für beste Regie. Im Jahr 1998 kam der Regisseur als Präsident der Jury an die Côte d’Azur gereist – und nun triumphal erstmals wieder mit seinem neuen Epos, das außer Konkurrenz gezeigt wird. Begleitet von seinen Stammschauspielern Robert De Niro und Leonardo DiCaprio, erhielt Martin Scorsese bei der Premiere von „Killers of the Flower Moon“ die bislang längsten Standing Ovations des Festivals.
Möglicherweise war dieser sehr emotionale Moment auch eine Form von Abschied von einem großen Regisseur. Erst kürzlich hatte der 80-jährige Martin Scorsese mit einem Interview in dem Magazin Deadline die Filmwelt bestürzt, in dem er melancholisch meinte: „Ich bin alt. Ich will noch Geschichten erzählen, aber ich habe keine Zeit mehr.“
Tödliche Heiratspolitik
Sehr viel Zeit hingegen – nämlich drei Stunden und 26 Minuten – hat sich Scorsese für „Killers of the Flower Moon“ genommen. Produziert von Apple TV+ (und mit geplantem Kinostart am 19. Oktober), erzählt Scorsese die wahre Geschichte von den Verbrechen an dem indigenen Volk der Osage: In den 1920er-Jahren wurde in Oklahoma Öl gefunden und machte die dort ansässigen Ureinwohner steinreich. Weiße Siedler, angetrieben von der Gier nach Geld, wollen die Ölbohrrechte an sich reißen und schrecken nicht vor Totschlag zurück. Eine Mordserie unter den Stammesangehörigen beginnt, die lange Zeit ungelöst bleibt.
Der einflussreiche weiße Ranger Bill Hale – gespielt von Robert De Niro mit typisch hängenden Mundwinkeln – fungiert als Drahtzieher. Er sorgt dafür, dass sein Neffe Ernest – ein verkniffener Leonardo DiCaprio – eine Osage namens Mollie heiratet (würdevoll: Lily Gladstone). Mollies Schwestern, ebenfalls die Frauen weißer Männer, sterben eines unnatürlichen Todes und werden ihrer Erbrechte beraubt.
In epochaler Breite und mit viel Ausstattungsaufwand, entwirft Martin Scorsese ein bislang unerzähltes Kapitel amerikanischer Gewaltgeschichte. Manchmal driftet das zum Manierismus neigende Spiel von DeNiro und DiCaprio zwar ins Satirische ab, findet innerhalb des großen Erzählbogens letztlich aber doch die nötige emotionale Schwerkraft.
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