Im Theater selbst wurde zunächst einmal heftig akklamiert – es gab minutenlang Standing Ovations für den Staatspräsidenten Sergio Mattarella, der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zu sich in die Loge gebeten hatte. Passenderweise ganz rechts in der Mittelloge (zumindest vom Zuschauerraum aus) hatte erstmals Giorgia Meloni, die neue italienische Regierungschefin, Platz bezogen. Und während Mattarella gefeiert wurde, warf sie Kusshändchen ins Auditorium, als gülte der Applaus ihr. Sah nicht danach aus.
Vor Beginn der Aufführung hatte Meloni gesagt, dass Politik und Kultur zu trennen seien. Das hätte man auch einmal Vladimir Putin sagen sollen. Die Neuproduktion an der Mailänder Scala erfüllte jedenfalls diesbezüglich Melonis Erwartungen.
Intendant Dominique Meyer und sein Musikdirektor Riccardo Chailly hatten schon vor Jahren den russischen Klassiker für die teuerste Aufführung des Jahres (Karten bis zu 2500 Euro) angesetzt, nicht ahnend, was danach passieren würde. Ukrainische Offizielle hatten zuletzt heftig dagegen opponiert, dass Meyer an „Boris Godunow“ festhielt.
Seine Entscheidung ist darob verständlich, weil eine pauschale Zensur der russischen Kunst freilich nicht akzeptabel wäre. Auch inhaltlich ist das Mussorgsky-Werk nach Puschkin und auf Basis der realen Zaren-Figur Ende des 16. Jahrhunderts keine oberflächliche Happy Hour. Es geht um den Usurpator, der den jungen Zarewitsch ermorden lässt, um selbst auf den Thron zu gelangen, dort Gewissensbisse bekommt und letztlich daran zugrunde geht (in dieser Aufführung wird er übrigens erdolcht). Definitiv keine Huldigung eines russischen Machthabers also.
Wenn man allerdings dieses a priori hochpolitische Werk ausgerechnet jetzt spielt (und auch die Post-Faschistin Meloni im Publikum hat), ist es bemerkenswert, wenn Politik völlig ausgespart wird. Kunst ist immer politisch, davon ist der Autor dieser Zeilen überzeugt, und auch die Verweigerung ist ein politisches Statement.
Kasper Holten, der dänische Regisseur und ehemalige Chef des Royal Opera Houses Covent Garden in London, entwickelt seine Geschichte aus den Chroniken des Mönches Pimen, auf der Bühne gibt es riesige Papierrollen für Projektionen und später auch für die Teile des russischen Reiches. Das sieht spektakulär aus, ist optisch vielleicht allzu sehr angelehnt an Arbeiten von William Kentridge, aber ohne dessen Genialität. Man trägt historische Kostüme und Ikonen en masse umher – dadurch wird die Produktion zu einer typischen „Boris“-Schlachtplatte, fast im Stil von Franco Zeffirelli.
Der ermordete Zarewitsch taucht immer wieder blutig auf, stark ist die Szene, in der tote Kinder ins Zimmer von Boris gelegt werden. Aber insgesamt ist es ein Abend der vergebenen Chancen, weil sowohl bei der wichtigen Szene an der geschlossenen Grenze, als auch in Moskau die Themen Krieg, Machtrausch, Flüchtlinge völlig ausgespart werden. Nicht einmal eine winzige Andeutung des aktuellen Konfliktes gibt es. Dadurch wird dieser „Boris“ so kultiviert langweilig wie viele andere Produktionen dieser Oper. Und zur russischen Weißwaschung. Das war etwa an der römischen Oper bei Puccinis „Turandot“ in der Regie von Ai Weiwei ganz anders.
Wesentlich mehr Kraft und Akzente gibt es im Graben, von dem aus Riccardo Chailly mit dem ausgezeichneten Scala-Orchester eine hochdramatische und zumindest musikalisch berührende Lesart gelingt. Gespielt wird der sogenannte „Ur-Boris“ aus dem Jahr 1869, der viel schroffer ist als spätere Fassungen, dieses Werk aber dennoch nicht zu den liebsten ihres Rezensenten macht.
Gesungen wird gut und mächtig. Von Ildar Abdrazakov, dem führenden russischen Bass, als diesmal noch sehr viriler Boris; von Ain Anger, dem exzellenten und markanten Pimen; von Norbert Ernst, dem intriganten und ausdrucksstarken Schuiski; von Dmitry Golovnin, dem höhensicheren Grigorij, dem Gegenspieler des Boris; von vielen anderen Solisten und auch vom Chor.
Im kommenden Jahr steht wieder Verdi bei der Inaugurazione auf dem Programm und zwar dessen „Don Carlo“. Auch da ginge es wieder um Macht und Unterdrückung. Theoretisch.
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