In erster Linie aber ist das Festival „Hin & weg“ – man fährt zu den „Tagen für zeitgenössische Theaterunterhaltung“ an den Herrensee, um in eine andere Welt einzutauchen – aber eine Spielwiese (im Wortsinn) für Talente. Das junge Ensemble Ehrlos aus Wien zum Beispiel präsentierte sein kapitalismuskritisches Programm „Für alle reicht es nicht“, in der über René Benko, Heidi Horten und Elon Musk hergezogen wird: Man schaut dem immer wieder Heiterkeit verströmenden Quartett beim Recherchieren und Debattieren zu. Da wird viel Halbwissen zusammengegoogelt – und Marc Illich als dominanter Besserwisser (im Freiheitsstatuenkostüm) muss sich immer wieder über die zur Schau gestellte Unbedarftheit seiner Mitstreiterinnen ärgern.
Das Kollektiv war die gesamte Zeit des Festivals (von 9. bis 18. August) als „Ensemble in Residence“ am Herrensee und probte öffentlich (durchaus eine Herausforderung) seine neue Show „Bussi Baba“ über die österreichische Identität; zur Uraufführung gelangen wird sie am 23. August im Wien Theater Olé.
Zu beeindrucken vermochte eine Truppe noch ohne Namen: Die Wienerin Anne-Sophie Delmas hatte Sigridur Hagalin Petursdottir (aus Island) und Jonas Elisabethsonn Antonsen (aus Norwegen) in der Pariser Schauspielschule Jacques Lecoq kennengelernt; gemeinsam realisierten sie ihr Stück „45 minutes“: Ein eiskalter Staatspolizist zwingt eine hörige Mitarbeiterin und eine Lehrerin, ein deliziöses Mahl zu verzehren – als Vorkosterinnen des Diktators. Die nervenzerfetzende Wartezeit, bis klar ist, ob Gift im Essen war, beträgt eine Dreiviertelstunde: mit wenigen Worten, schreckgeweiteten Augen und viel Pantomime stellt Anne-Sophie Delmas die Pein ihrer Olivia dar.
Sie spielte auch bei der Abschlusspräsentation von „Drama Litschau“ mit: Unter der Leitung von Christoph Braendle schrieben junge Frauen (es gab erneut keine Bewerber) im Rahmen eines Workshops binnen weniger Tagen Dramolette, die als szenische Lesungen im Gütermagazin, einem Schuppen beim Bahnhof von Litschau, präsentiert wurden. Agnes Hofinger siedelte ihren amüsanten Krimi im Strandbad von Litschau an; und Johanna Kubassa gelang ein wunderbar absurder Dialog eines Kindes mit der Welt, in dem Lara Horvath (Schauspielschülerin der MUK in Wien) voll Enthusiasmus zu glänzen vermochte.
Geradezu herausragend geriet die Präsentation der Studierenden der Berliner Hochschule Ernst Busch unter dem Titel „Identitätssplitter“ im Brauhausstadl: Wael Kreiker und Saniia Bludova, erst vor wenigen Jahren ohne deutsche Sprachkenntnisse aus Syrien beziehungsweise der Ukraine geflüchtet, spielten eine ungemein berührende Demenz-Szene aus „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ von Joël Pommerat; Pia Dembinski lieferte sich danach als Heinrich von Kleists Penthesilea einen geradezu unglaublichen Geschlechterkampf im Wrestling-Free-Style: Nicht nur Achill, verkörpert von Carl Geißler (einem kleinen Bären), blieb angesichts dieses blonden, wunderbar artikulierenden Wirbelwinds vor Staunen der Mund offen.
Gespielt wurde bei „Hin & weg“ natürlich nicht nur in Leerständen (darunter im alten Kaufhaus und in der Blechhalle), sondern auch im Freien – rund um den Herrensee. Das Teater Štrik aus Klagenfurt zum Beispiel lud zu einer Expedition mit dem U-Boot „Suzanna“ ein: Man sitzt zusammengezwängt in einem Wohnwagen – und vor dem Fenster tun sich in diesem liebevoll gemachten Figurentheater tatsächlich faszinierende Unterwasserwelten auf.
Zudem realisierten Anton Widauer und Alina Schaller zusammen mit ihrer Gruppe KollekTief, dem Gesangsverein Litschau und vielen Einheimischen erneut das komplexe Stationendrama „Chronik der nördlichsten Stadt“, das nach einer Irrfahrt durch die Geschichte mit einem gemeinsamen Essen am Ufer des Sees endet; die letzte Aufführung (am Sonntag) konnte ob des Regens nur Indoor stattfinden. Eine Wiederaufnahme 2025 ist eher unwahrscheinlich: Widauer, heuer der Anatol bei den Festspielen Reichenau, wie auch Schaller sind langsam dem Biotop von Impresario Zeno Stanek entwachsen.
Bernhard Fellinger aber kündigte bereits an, auch im nächsten Jahr weiterzumachen: Seine Gesprächsrunden um elf Uhr mit dem Titel „Fellingers Frühstück“ sind ein Highlight. Heuer interviewte er unter anderem den sephardischen Juden Peter René Perez, 1936 in Wien geboren, und den Kurden Ali Gedik, der als Sozialarbeiter in Favoriten beeindruckende Integrationsarbeit leistet. Man hörte gebannt auch der Geschichte von Irene Mareiner zu, die mit einem fremden Herz und einer fremden Niere lebt – und immer am 28. Juli, dem Transplantationstag, ihrem Spender gedenkt.
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