Zweigleisig
Die Münchner Schau, die auf einer Kooperation der Städtischen Galerie im Lenbachhaus mit der Londoner Tate Gallery basiert, führt dies schlau vor, indem sie in die lange Halle des „Kunstbaus“, der Erweiterung des Lenbachhauses, zwei parallele Schienen legt: An der linken Wand sind chronologisch Bilder des „offiziellen“ Turner zu sehen – also Werke, die der Maler, der schon als 14-Jähriger an die „Royal Academy“ kam und mit 26 deren jüngster Professor wurde, bei den jährlichen Ausstellungen der Institution präsentierte.
Rechts hängen Bilder, die zwar teils zeitgleich mit den renommierten Seestücken und Stadtansichten entstanden, aber das Atelier nie verließen: Luftiger, vielleicht unfertig, voll jener Strahlkraft und Atmosphäre, die spätere Künstler der Moderne von Camille Pissarro bis zu Mark Rothko an Turner so sehr schätzten. Dazwischen sind Skizzenbücher, Aquarellstudien, aber auch exakte Schautafeln zu sehen, die Turner für seine Vorlesungen im Fach Perspektive an der Akademie anfertigte und nutzte.
Was dabei sichtbar wird, ist die Prozesshaftigkeit der Kunst: Wir sehen ein ständiges Tasten und Sondieren, ein Aufstellen von Regeln und Verwerfen derselben. Es ist eine Wahrnehmung, die dem zeitgenössischen Kunstempfinden viel näher kommt als das Abschreiten von mythologischen Szenen, die Turner einst zwar Ruhm brachten, heute aber einen klaren Zeitstempel tragen.
Dass Turners Werk überhaupt in dieser Weise gesehen werden kann, ist dem Umstand zu verdanken, dass fast der gesamte Nachlass des Künstlers dem britischen Staat überantwortet wurde. Hier liegt der Anknüpfungspunkt der Tate zum Lenbachhaus, das erst durch eine Schenkung der Malerin Gabriele Münter (1877–1962) zu einem Hort des deutschen Expressionismus wurde. Die Tate zeigt 2024 die Lenbachhaus-Sammlung zur Gruppe „Der Blaue Reiter“ im Gegenzug für die Turner-Leihgaben.
Dass Turners Gemälde, Aquarelle und Skizzen nun in München so vielfältig ausgebreitet sind, ist jedenfalls ein seltener Glücksfall. Eine neue Generation kann Spuren in ihnen verfolgen, Leerstellen ergänzen – so werden einige Bilder neuerdings dahingehend betrachtet, dass sie frühe Auswirkungen der Industrialisierung abbilden. Über allem steht die einmalige Fähigkeit des Malers, Licht und Atmosphäre einzufangen.
Nicht „abstrakt“
Dass Turner dabei stets das Abbild suchte, ist gut belegt: Gefühlsausdruck oder der Abstraktion wären ihm als Motivation nicht in den Sinn gekommen. Dass er mit der Zeit kompromissloser wurde und sich scheute, nach der Mode zu malen, ist ebenso dokumentiert. Sein Hauptwerk „Schneesturm“ (1842), ein Wirbel aus gemalten Wolken, Gischt und Rauch, das Turner als besonders wahrhaftig erachtete, hängt dann auch an jenem Punkt, an dem die beiden Stränge der Ausstellung zusammenlaufen. Die Kritiker seiner Zeit spotteten, das Bild sei wohl mit Seifenlauge gemalt worden.
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