Lars Eidinger: "Stehe in der Tradition der Kriegsberichterstattung"
Lars Eidinger, 1976 in Berlin geboren, drückt sich als Künstler vielfältig aus – mit seinem Körper, als DJ und auch mit seinen Fotos, die en passant auf Reisen entstehen. Nun, ab 9. Februar, zeigt er in der neuen Galerie Alba von Barbara Pretterhofer in der Wiener Schleifmühlgasse 3 eine Auswahl – unter dem Titel „EVIL“. Es handelt sich dabei um eine Spiegelung des Wortes LIVE. Die Fotos zeigen, dass „Übel“ und „leben“ die zwei Seiten der gleichen Medaille sind.
KURIER: Der Titel Ihrer Schau bezieht sich auf ein Foto: Ein Mann mit rotem T-Shirt sitzt quasi als I-Punkt auf den riesigen Buchstaben EVIL. Was fasziniert Sie daran?
Lars Eidinger: Ich hab’ letztes Jahr mit Noah Baumbach in Cleveland „White Noise“ gedreht, eine Verfilmung von Don DeLillos Roman „Das weiße Rauschen“ – mit Adam Driver und Greta Gerwig. Vor der Rock and Roll Hall of Fame steht LONG LIVE ROCK. Als ich aus dem Museum komme, sehe ich das LIVE von hinten – und vermeine EVIL zu lesen. Das fand ich interessant. Weil es sich phänomenologisch auf meine Fotos übertragen lässt. Ich spiegele etwas, aber was man darin sieht, ist dem Betrachter oder der Betrachterin überlassen. Die Bilder sind nicht inszeniert, die Ereignisse finden auch ohne mich statt. Ich habe keinen Einfluss auf die Motive, ich halte sie einfach fest.
Ich muss kontern. In Cleveland entstand auch das Foto vom einem in Gold eingefassten Portal. Natürlich drücken Sie in dem Moment ab, in dem ein Mann mit goldener Jacke daran vorbeigeht.
Stimmt. Ich nehme auch durch den Ausschnitt eine Wertung vor. Ich verstehe diese Bilder ja als Selbstporträts. Die Augen sind der einzige sichtbare Teil des Gehirns. Auf Aufnahmen von Föten kann man erkennen, dass die Augen sich aus dem Gehirn herausbilden. Das heißt: Wenn man jemandem in die Augen schaut, schaut man ihm aufs Gehirn. Und man meint, in den Augen alles über das Gegenüber lesen zu können. Weil man ihm beim Denken zuschaut. Meine Fotografien sind mein Blick auf die Welt. Das ist meine Art, wie ich über die Welt denke. Ich teile mich damit mit, ich zeige, wer ich bin.
Ihnen fällt enorm viel auf – Details, an denen alle anderen achtlos vorübergehen, zum Beispiel Brechungen von grafischen Mustern.
Ich bekomme oft Bilder zugeschickt: „Für Deine Sammlung!“ Aber ich sammle nicht fremde Bilder. Diese Motive sind mir begegnet. Ich könnte die Situation gar nicht so perfekt inszenieren, wie sie sich zufällig darstellt. Zum Beispiel das Foto, auf dem alle weiße Turnschuhe tragen, und im Vordergrund ist ein Rucksack, an dem ein kleiner weißer Schuh hängt… Das sieht aus, als wäre es arrangiert. Aber es ist Zufall. Und bei den Motiven, die soziale Missstände zeigen: Da beschäftigt mich, dass sie in der Wahrnehmung fast unsichtbar geworden sind. Wenn die Leute zu mir sagen: „Mensch, was Du alles siehst!“, dann zeigt das ja nur, dass sie die Missstände nicht mehr sehen. Sie sind zwar da, aber wir übersehen sie.
Bezeichnend für Ihre Street Photography ist der Widerspruch oder Konflikt, etwa das Foto mit den Obdachlosen vor dem Habitat-Geschäft. Denn das Wort bedeutet ja Lebensraum ...
Ist Ihnen auch das Foto von dem Menschen aufgefallen, der in der Kälte am Boden vor dem Bettengeschäft liegt? Ich kann ein Bild von der Situation machen, aber ich kann nicht erklären, warum der Mensch in der Kälte schlafen muss – unmittelbar vor einem leeren, beheizten Raum mit vielen Betten, getrennt nur durch eine Glasscheibe. Oder der Mann, der vor drei Bankautomaten sitzt: Der Reichtum ist zum Greifen nahe; was ihn von ihm trennt ist nur ein Code, den er nicht kennt.
Aber ist es nicht voyeuristisch, diese Obdachlosen zu betrachten? Fragen Sie eigentlich die Menschen, ob Sie sie fotografieren dürfen?
Nein, ich frage sie nicht. Aber ich begegne den Menschen mit Respekt. Ich stelle sie nicht aus, ich führe sie nicht vor. Ja, ich weiß um die Diskussion und weiß, dass es die Persönlichkeitsrechte betrifft. Aber umgekehrt: Wenn es nicht erlaubt wäre, mit künstlerischem Anspruch Menschen in alltäglichen Situationen zu zeigen, dann gäbe es bald keine relevanten Bilder mehr von unserer Gesellschaft. Diese Missstände müssen festgehalten werden können. Ich bin groß geworden mit Endzeitfilmen, in denen der Mensch gegen die Maschine kämpft. Ich glaube, dass dieser Krieg bereits stattgefunden hat – und dass wir ihn schon verloren haben. Das thematisiere ich auch in meinen Bildern. Insofern stehe ich in der Tradition der Kriegsberichterstattung. Es geht darum, soziale Missstände aufzuzeigen.
Ihre Fotos werden zum Verkauf angeboten. Sie verdienen daher gut Geld – und der Obdachlose bekommt wieder nichts. Ist das richtig?
Tja. (Eidinger denkt nach.) Ich habe trotzdem nicht den Eindruck, dass ich mich an der prekären Situation dieser Menschen bereichere. Auch deshalb, weil sich die Ausstellung nicht auf Obdachlosigkeit oder Armut beschränkt. Ein Bild mit einem obdachlosen Menschen kauft auch keiner. Mir geht es vor allem darum, Gesellschaft in ihrer Komplexität und Ambivalenz zu zeigen, weil ich das Ausblenden und Wegschauen als zynisch empfinde. Thematisch geht es mir zum Beispiel auch um die Entfremdung von der Natur. In vielen Fotos sieht man, dass wir uns gar nicht mehr als Teil der Natur verstehen. Und dass sich Zivilisation immer über die klägliche Imitation der Natur entlarvt.
Ein kontinuierlich wiederkehrendes Thema – zumindest auf Instagram – ist das Hotelbett vor und nach dem Schlafen. Haben Sie eine Erkenntnis daraus gewonnen?
In Peter Handkes grandiosem Stück „Zurüstungen für die Unsterblichkeit“ spielte ich einen „Raumverdränger“. Das war eine meiner ersten Rollen am Deutschen Theater unter der Regie Jürgen Goschs. Die Raumverdränger haben die Parole „Reiz statt Raum“, und die letzte Enklave der Ruhe ist von ihnen bedroht. Für mich gibt es im Hotelzimmer wenig Reize. Es ist einer der wenigen Orte, an denen ich zu Ruhe komme, weil ich keinen Bezug zu den Gegenständen habe. Was Heimat oder Zuhause ausmacht, ist, dass man zu allem einen Bezug hat. Aber das kann einen auch stressen. Das Hotelzimmer hingegen ist eine Simulation von Zuhause. Es gibt zwar eine enorme Vielfalt an Nachttischlampen in diesen Zimmern – und auf der anderen Seite wirkt die Einrichtung total austauschbar.
Unpersönlich.
Ja. Und nach der Nacht hat jemand in diesem Zimmer gelebt. Man sieht auf den Fotos diese Spuren. Interessant ist, dass die Leute immer wieder darüber spekulieren, wie viele Menschen in diesem Bett geschlafen haben.
Eben weil in Ihren Fotos immer beide Hälften des Doppelbetts zerknüllt sind …
Das erzählt mehr über die Leute, die diese Kommentare schreiben, als über mich. Liegen Sie beim Schlafen steif auf dem Rücken, ohne sich zu bewegen? Und dann gibt es Leute, die zu mir sagen: „Das hast Du aber schön drapiert!“ Aber ich steh‘ aus dem Bett auf – und mach das Foto. Ein Stillleben hätte für mich gar keinen Wert mehr, wenn ich beginnen würde, die Gegenstände zu arrangieren. Bei der Bettdecke ist es genauso.
In der Ausstellung hängt auch eine Jesus-Uhr. Ist sie nicht ein Fremdkörper?
Das Kruzifix hat mich immer schon fasziniert. Ich habe mich gefragt: Was sagt es über eine Gesellschaft aus, wenn sie den gekreuzigten Jesus, den idealen Menschen, an die Wand hängt?
Und zwar?
Das Kruzifix soll uns mahnen, dass wir es waren, die ihn verraten haben. Also dass wir unsere Ideale verraten. Daher hab‘ ich aus dem Kruzifix eine Uhr bauen lassen – mit dem Kreuz als Stunden- und dem Jesus als Minutenzeiger. Weil die Geschichte ein immer wiederkehrendes Moment hat. Als seien wir dazu verdammt, die ewig gleichen Fehler zu wiederholen. Daher nennt man gewisse Theaterstücke auch „Klassiker“: Weil sie immer aktuell sind, weil sie immanente Konflikte des Menschen behandeln, die sich nicht überwinden lassen. Ich bin mir sicher: Es wird keine Zeit kommen, in der nachfolgende Generationen behaupten können, den Konflikt von Hamlet oder Othello überwunden zu haben. Vielleicht sind es sogar diese Konflikte, die uns zu Menschen machen.
Ein österreichischer Künstler, Manfred Erjautz, hat schon vor Jahren eine ähnliche Jesus-Uhr bauen lassen.
Das wusste ich nicht.
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