Er selbst war desertiert – für das NS-Regime wollte er nicht kämpfen. Noch in Uniform, aber mit gestohlenen Blanko-Marschbefehlen, setzte er sich Ende 1944 in Dänemark ab und irrte im Zug durch halb Deutschland. „In Berlin wurde ich von einer Wehrmachtsstreife kontrolliert. Nie wieder in meinem Leben hatte ich so viel Angst“, erzählte er dem KURIER. „In den Straßen waren Soldaten an Laternenmasten aufgeknüpft. ,Ich bin ein Verräter‘, stand auf den Schildern, die an ihren Hälsen hingen.“ Seine Abscheu gegen den Krieg reichte tief in seine Kindheit zurück: „1934 hat mir mein Vater die Blutlachen an den Kampfstätten des Bürgerkriegs gezeigt. Das hat mich für immer geprägt.“
Nach dem Krieg sollte Cerhas Oeuvre prägend werden. Seine Musik war vielfältig und, selten genug in der Neuen Musik, durchsetzt von immer wieder aufblitzendem Schmäh. Und am Anfang in konservativen Kreisen hoch umstritten. „Ich wurde als Zerstörer der traditionellen österreichischen Musik bezeichnet“, erzählte Cerha einmal in einem KURIER-Interview. „Ich vermute ja auch, dass noch Anfang der 60er für viele Leute, die Konzertprogramme gemacht haben, die Wiener Schule als ,entartete Musik’ gegolten hat. Sie haben das nicht mehr gesagt.“
1958 gründete Cerha ein Ensemble mit, das die Musiklandschaft verändern sollte: „die reihe“ sollte fortan in der Wiener Musikwelt gegen viele Widerstände das Tor zur Gegenwart aufstoßen – und frische Luft da hereinlassen, wo sonst gern nur die abgestandene, bekannte eingeatmet wurde (und wird). Man spielte an gegen die Ödnis, aber auch gegen ganz faktische Probleme, dass nämlich viele auch hochkarätige Musiker und Orchester für diese Art von Musik nicht gerüstet waren: „Die Einstudierung von neuen Werken bereitete große Schwierigkeiten“, sagte Cerha. „Heute sind etwa viele junge Schlagzeuger von einer Qualität, dass selbst die alten philharmonischen Schlagzeuger sagen, dass sie dieses Niveau nie hatten.“
Auch arbeitete Cerha daran, dass die erste Wiener Schule um Schönberg und Berg – in der NS-Zeit verfemt – wieder Gehör erfuhr.
Cerha selbst lieferte seinem Ensemble und auch anderen Orchestern – wie dem Radiosymphonie Orchester, das er als Komponist und Dirigent seit seiner Gründung begleitete – viel Spielenswertes. Am bekanntesten ist sicher seine Vollendung der Alban-Berg-Oper „Lulu“, sein Werk ist jedoch um vieles vielfältiger und reicht von kleinen Formen bis zu großen Stücken wie das prägende Werk „Spiegel“ für Orchester und Tonband und eigenen Opern wie „Baal“ und „Der Riese vom Steinfeld“. Das Werk (Libretto: Peter Turrini) wurde 2002 an der Wiener Staatsoper uraufgeführt. „Heute interessieren sich fast alle jungen Komponisten für die Oper und schreiben welche“, sagte Cerha. „Es sind seit 200 Jahren, denke ich, nicht so viele Opern geschrieben worden wie heute.“
Aktiv war Cerha bis ins höchste Alter. Die Musik kommt „am Morgen zu mir“, sagte er zu seinem 90er dem KURIER, „wenn ich nicht mehr tief schlafe, aber noch nicht wach bin. Einer der Gründe, warum mir in den letzten zehn Jahren so vieles entstanden ist, besteht darin, dass mich kein Wecker mehr weckt.“ 2004 wurde sein Requiem uraufgeführt, das er selbst als „Opus Summum“ seines Lebens bezeichnete und für das er eigene Gedichte aus einer Lebenskrise während der 1950er-Jahre vertonte. Seinem Gedichtzyklus „De Profundis“ „fehlt jede Hoffnung auf einen Frieden im Jenseits“, so Cerha damals. „Ich habe großen Respekt vor allen religiösen Überzeugungen, aber besitze selbst keine feste Gläubigkeit“.
Als sein Komponistenkollege György Ligeti 2006 starb, sagte Cerha bei der Trauerfeier: Ligetis Tod „reißt eine gewaltige Lücke in die musikalische Kulturlandschaft, die so bald nicht zu füllen sein wird“. Für ihn selbst gilt das nun ganz genauso. Österreich hat einen stillen Giganten verloren.
Kommentare