Karl-Markus Gauß: "Man muss nicht die ganze Zeit draufschnalzen“
Der Autor philosophischer Betrachtungen, literarische Reiseschriftsteller und Beobachter Karl-Markus Gauß feiert im Mai seinen 70. Geburtstag. Am Freitag hat er sein neues Buch präsentiert.
KURIER: Ihr neues Buch reiht bunt geordnet Erinnerungen aneinander – war das Aufschreiben auch eine Art Therapie nach Ihrer schweren Krankheit?
Karl Markus Gauß: Das ist interessant, dass Sie das fragen: Ich schreibe ja seit 20, 30 Jahren Tagebücher und mache aus Teilen davon später meine Journale. Aber in diesem Fall war es tatsächlich anders: Ich hatte die Idee für das Buch in der Intensivstation der Herz-Kardiologie.
Sie hatten einen Herzinfarkt.
Ja, den habe ich männlich acht Stunden hinaus gezögert, und dann war ziemlich viel kaputt. Und nach der OP habe ich auf die Müllner Kirche hinaus geschaut, in der ich als Kind ministriert habe, und da sind so Szenen meines Lebens durch mich hindurch geschossen, lauter intensive und sehr viele sehr schöne. Und die wollte ich dann in ein Buch fließen lassen.
Sie erinnern sich an allerkleinste Details.
Die Erinnerung ist ja eine komische Sache: Dinge, die insgesamt nicht so wichtig sind, stehen plötzlich prägnant vor Augen, auch wenn sie vierzig Jahre her sind. Und an andere Wegmarken des Lebens kann man sich kaum erinnern.
Die Nahtod-Erfahrung, die Sie hatten: Lebt man nachher anders, wie immer wieder erzählt wird?
Nein, überhaupt nicht. Man schafft es sowieso nicht, gute Vorsätze umzusetzen. Und ich habe immer schon den Satz von Thomas Bernhard gehasst „Es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt“. Es war mir vorher alles wichtig und nachher auch. Wenn man plötzlich sagt, man lebt ganz anders, dann ist das eine Kritik am Vorher. Dazu bin ich zu einverstanden damit, wie ich meinen Weg gegangen bin.
Ich habe gehört, Sie lesen Todesanzeigen in der Neuen Zürcher zur Erheiterung?
Ja, weil die oft so eine lebensfrohe Botschaft haben. Zum Beispiel die alte Dame, die ihre eigene Todesanzeige selbst geschrieben hat und sagt: „Statt mir Toten Blumen aufs Grab zu legen, schenkt doch lieber Euren Liebsten ein paar.“ Das ist eine Grandezza, die ich auch selbst gerne hätte.
Vom Tod zu Lustigem: In Salzburg werden bald die Kommunisten regieren – ist das lustig?
Die Kommunisten werden nicht regieren. Ich habe den Wahlausgang nicht mit Verkniffenheit zur Kenntnis genommen, sondern finde das ziemlich gut.
Warum?
Die ÖVP hat schwere Verluste hingenommen, aber zum ersten Mal nicht an die FPÖ abgegeben – deren Bürgermeisterkandidat rangiert bei acht Prozent, die Partei bei 10,5. Das ist Gott sei Dank erbärmlich.
Es gewann anderer Populismus?
Der Dankl ist ein vorbildlich höflicher, unaufgeregter, rhetorisch geschickter Argumentierer. Wenn so jemand von den etablierten Parteien und Nichtwählern Proteststimmen bekommt – wir haben nicht 25 Prozent Kommunisten in Salzburg –, für ein zwei Themen, und zwar einmal ohne Knüppel, ohne Gereiztheit, unaggressiv, dann könnte das auch ein Zeichen über den KPÖ-Erfolg hinaus sein: Man muss, wenn man Erfolg haben will, nicht die ganze Zeit draufschnalzen.
Zurück zu den Erinnerungen: Sind die eine Art sicherer Hafen in gerade unsicheren Zeiten?
Ich habe das Gefühl, dass Erinnerungen an Vergangenheiten wahnsinnig schnell schwinden – übrigens auch an den Kommunismus. Und um noch beim Dankl zu bleiben, ohne ihn verteidigen zu wollen: Im Unterschied zu den Grazer Kommunisten hat er keine altstalinistischen und altsowjetischen Träume. Er hat sich von der Sowjetunion und Russland glaubwürdiger distanziert als der Wirtschaftsbund Salzburg.
Da sind wir schon beim Thema Russland und Ukraine: Bei ihren vielen Reisen in die Ukraine, wie haben Sie die von Putin geleugnete Nation wahrgenommen?
Vor der Annexion der Krim gab es einen Nations-Gedanken, der war komplett übernational gefasst – da haben die Russen in der Ukraine dazu gehört, und mit beeindruckendem Wohlwollen gegenüber den Minderheiten, den Griechen, den Ungarn, den Armeniern, den Deutschen. Als angegriffener, überfallener Staat ist es extrem schwer, die interne Vielfalt zu bewahren. Besonders gegenüber den Russischstämmigen – wobei ja viele von ihnen freiwillig zur ukrainischen Sprache „übergetreten“ sind.
Und mehr russische Ukrainer als man glaubt lehnen Putins Krieg ab.
Absolut! Was die Ukraine schaffen muss: Dass sie aus dem Krieg als gestärkte vielfältige Nationalitätenrepublik heraus kommt. Das ist schwierig.
Und noch lange nicht in Sicht. Der Westen tut sich mit seinem Beistand immer schwerer, der Volksmund sagt, gebt endlich Putin nach, und auch der Papst empfahl der Ukraine nun den „Mut zur weißen Fahne“ ...
(Seufzt) Ich bin in vielen Dingen ein Anhänger des Papstes, obwohl nicht katholisch, aber das fällt mir schwer in mein Weltbild zu integrieren. Natürlich ist ein und ist der Krieg furchtbar, und am Ende wird vielleicht eine zertrümmerte Ukraine stehen. Aber jetzt mit der weißen Fahne zum Aggressor zu gehen und zu sagen, behaltet Euch das und das, aber lasst das Kerngebiet in Ruhe – das wäre ein Desaster.
„Pazifismus im Dienste des Angreifers“ proklamiert, haben Sie einmal gesagt.
Ja, und es wäre eine Einladung an die russischen Kräfte. Nach dem gleichen Muster kann man ja in anderen Ländern auch einmarschieren – wenn’s darum geht, wie die Hauptausrede lautet, den Völkermord an den Russen zu vermeiden. Moldau, Estland sind dann die nächsten? Aber auch die Mehrheit der dort lebenden russischen Bevölkerung sagt keineswegs „bitte befreit uns endlich“.
Den Pazifismus im Dienste des Angreifers gibt’s auch im Fall der Palästinenser?
Durch die militärischen Ereignisse der letzten Zeit haben zwei Gruppen einen schweren Schaden erlitten. Das eine sind die Pazifisten. Das andere ist die europäische Linke, die zerbröselt bei der Haltung, um die es jetzt geht ...
Im Falle der Ukraine?
Auch wenn viele Rechte Putin anhängen, denken Sie nur an Sahra Wagenknecht und erstaunlich viele Linke, die sagen, Putin konnte ja nicht anders, man hat ihn quasi zum Krieg gezwungen. Und in Gaza ist es noch einmal gesteigert. Die Hamas hat am 7. Oktober einen klar antisemitisch-rassistischen Angriff gestartet im Zutrauen darauf, dass sie binnen kürzester Zeit propagandistisch siegen wird. Und die hat gesiegt, derzeit. Auch wenn stimmt, was Biden sagt, dass die israelischen Angriffe dem israelischen Staat wenig nutzen.
Sondern eben seinen Feinden, die nur darauf setzen.
Absolut. Der Hamas sind die Opfer ja wurscht. Und ich wundere mich, wenn ich pro-palästinensische Demonstrationen sehe, wo blonde Frauen, die alternativ leben, und queere Solidaritätsgruppen mitmarschieren, die in Gaza keine zwei Tage überleben würden – wenn die einmal den Mut und den Fleiß hätten, sich die Dokumente der Hamas anzuschauen, dann wüssten sie, dass die einen Gottesstaat errichten will. Und dass 90 Prozent derer, die hier im Westen, teilweise aus dem akademischen Bereich, für sie auf die Straße gehen, dort liquidiert würden binnen kürzester Zeit.
Woran liegt diese Faszination in der Linken für die palästinensische Sache?
Ich glaube, dass die zerfallende Linke seit langer Zeit auf der Suche nach dem ist, was man früher marxistisch das „revolutionäre Subjekt“ genannt hat. Das war die Arbeiterklasse – wenn die sich erhebt, dann befreit sie uns und die ganze Welt. Jetzt sucht man halt einen Ersatz und kommt auf die komischsten Ideen. Eine Zeit lang glaubten sie, das sind die jugendlichen Gewalttäter, die im bürgerlichen Zwangsstaat blöderweise ins Gefängnis kommen. Dann kamen andere Randgruppen wie die LGBTQ-Bewegung, für deren Rechte man sich einsetzt.
Randgruppen im Zentrum?
Wir leben in einem Staat und in einer Gesellschaft, die nur noch aus konkurrierenden Minderheiten besteht. Ich wurde vor 20 Jahren aufgrund meiner Themen und Texte einmal der „Minderheiten-Gauß“ genannt und war wahnsinnig stolz; wenn mich jetzt jemand „Minderheiten“-Gauß“ nennt, sage ich danke, das ist keineswegs mein Ideal.
Weil Minderheiten versuchen, die Meinungshoheit zu kapern?
Weil sie sie kapern, und weil sie aus oft zerstrittenen Minderheiten bestehen, die glauben, ihr Anliegen wäre das einzige, um das es geht. Und eine ziellose akademische Jugend in den USA, aber auch schon bei uns, entdeckt ohne jedes Bemühen, sich mit der Realität auseinander zu setzen, immer neue Minderheiten, für die man unterstützend einspringen muss. Und da kommt noch der Verfall von Begriffen wie „Antiimperialismus“ und „Antirassismus“ dazu, worunter ursprünglich ja einmal etwas sehr Gutes zu verstehen war. Dabei hätte Marx nie bürgerliche Freiheiten für nichtig erklärt oder gesagt, der Kant ist ein alter Rassist. Das, was aufklärerisches Erbe genannt wird, wird unter dem Ansturm von Antirassismus und anderen Antis ad acta gelegt. Es gehören die Denkmäler weg, als nächstes schmeißen wir die Bücher weg ...
Kant und die Aufklärung haben ja die Frau missachtet ...
Tja, dass die größten Freigeisterinnen und Freigeister vor 300 Jahren nicht den tollen fortschrittlichen Standard von Idioten von heute hatten, das ist klar. Aber dass die Idiottinnen und Idioten von heute dort sein können, wo sie sind, ist auch von den Leuten von damals mit gebaut worden.
Die Bekämpfer des Tesla-Werkes in Deutschland berufen sich auf den Anti-Imperialismus und wollen ein System zerstören.
Sie glauben aufgrund maoistischer oder sonstiger Logik, wenn das absolute Chaos ausbricht, wird das Gute, nämlich sie, siegen. Das ist ein Irrglaube: Wenn das Chaos, der Vorbürgerkriegszustand ausbricht, dann regiert die nackte Gewalt des Stärkeren. Und das werden sicher nicht sie sein.
Was ist die Quelle dieses Arrogierens des Guten für sich, der andere ist der Böse?
Ich weiß es nicht. Der vergangenes Jahr verstorbene bosnische Autor Dževad Karahasan hat gesagt: „Du musst den Menschen kein Brot und kein Wasser versprechen, keinen Reichtum und keinen Wohlstand. Du musst ihnen nur sagen, der da neben dir steht, ist ein Schwein. Daher darfst du ihn anspucken. Er ist ein Hindernis für gute Verhältnisse, daher darfst du ihn zu Tode treten.“
Eine von den vielen Minderheiten ist die Cancel-Culture-Minderheit.
Cancel Culture ist das Ende jedes historischen Denkens. Humanismus und Fortschritt findet immer mit historischem Bewusstsein statt.
Uschi Glas erlebt gerade einen Shitstorm, weil sie in einer Talkshow das N-Wort sprach – mit ihren dunklen Haaren und ihrem dunklen Teint „war ich das kleine Negerlein aus Niederbayern“, sofort unterbrach der Moderator und stellte in den Kontext.
Ich war vor ein paar Jahren in Bulgarien unterwegs, da gibt’s bei Plovdiv eine sehr große Roma-Gruppe, die ich besucht habe. Und die bezeichnen sich als Zigane. Da habe ich gesagt, nein, nein, Ihr seid Roma! Und die haben gelacht und gesagt, nein, wir sind Zigane. Und als ich das für ein Buch schrieb, wurde mir vorgeworfen, die Roma zu beleidigen. Es ist selbstverständlich, dass man den Wunsch, nicht mehr Zigeuner, sondern Roma genannt zu werden, respektiert. Aber dort gibt es Roma, die wollen Zigeuner genannt werden – und der fortschrittliche deutsche Verleger verbietet das. Aus dem Dilemma muss man einmal heraus kommt. Aber klar ist auch: Es gibt teilweise eine selbstverliebte Gegenbewegung, die ständig sagt, man darf ja heute nichts mehr sagen.
Haben Sie Jim Knopf gelesen?
Ich hab ihn gelesen und meinen Kindern vorgelesen. Und ich bin schockiert: Das ist wirklich kein rassistisches Buch.. Aber sie haben jetzt auch das Titelbild geändert: „Das Äußere des Jim Knopf könnte unter dem Gesichtspunkt der heutigen Erfahrungen von Rassismus Irritationen auslösen“, hieß es seitens des Verlages, und was haben sie gemacht? Sie haben die dunkel-schwarze Haut des Jim Knopf aufgehellt. Die positive Figur Jim Knopf darf kein reiner Schwarzer sein, ein bisserl Weiß muss auch dabei sein – das ist doch Rassismus pur.
Dass diese Minderheitenthemen so eine Relevanz bekommen, dass die Aufregung so groß ist, wenn eine deutsche Seniorentanzgruppe als Mexikaner auftritt, woran liegt das?
Das hat schon auch mit Narzissmus zu tun. Dieser Wunsch, den Guten anzugehören, die eigene Bedeutung zu behaupten. Und die absolute Blindheit dafür, dass nicht jede Kränkung, die es im Leben gibt, ein weltpolitischer Skandal ist.
Macht Ihnen der Aufstieg der Rechtspopulisten Sorge?
Ich glaube, dass es Pendelbewegungen gibt. Das ist nicht der Weisheit letzter Schluss, dass wir jetzt ewig mit den ganz Rechten zu tun haben werden. Der Erfolg der Rechtspopulisten hat auch mit der Digitalität und den Neuen Medien zu tun: Der größte Nichtskönner erreicht wesentlich mehr Menschen als je zuvor. Vielleicht ist es ja so wie mit den Indigenen, als die erste Generation Weiße kam und Alkohol und Krankheiten brachte, da starben die wie die Fliegen dahin – jetzt könnte man hoffen und sagen, wir haben die erste Generation von digitaler Zeit hinter uns, und die Menschen sind automatisch verblödet. Die Technologie, die enorme Fortschritte mit sich bringt, hat auch einen geistigen, moralischen und intellektuellen Rückschritt erzwungen.
Das Weltbild, mit dem Sie groß geworden sind – Friede, Freiheit, es geht bergauf –, bricht das angesichts von Kriegen und Katastrophen gerade zusammen – oder trügen uns die Erinnerungen, und es war mit Kaltem Krieg, Jugoslawien-Kriegen, 9/11 früher genauso schlimm?
Wir erhalten durch die mediale Dauervernetzung von viel mehr Problemen und Krisenherden Kenntnis als früher. In der Zeit, in der ich aufgewachsen bin, haben mitnichten alle Leute gesagt, es ist alles wunderbar. Ja, es gab früher wirtschaftlichen Aufstieg und Demokratisierung und viel Fortschritt, aber auch die dauernde Angst vor Atomkrieg und andere Schrecken.
Da sind wir zum Schluss wieder bei Erinnerungen: Würden sie die noch einmal erleben wollen?
Nein, ich möchte nicht wieder jung sein. Ich möchte nicht wieder ins Gymnasium gehen oder studieren. Nicht in der damaligen Zeit, und heute auch nicht. Nochmal 55 sein, also 15 Jahre zurück, das wär’ okay. Aber die auch literarisch von mir oft sehr liebenswürdig oder mit Emphase beschriebenen Zeiten: Noch einmal durch sie gehen möchte ich nicht.
Zur Person
Karl-Markus Gauß ist ein Schriftsteller, Essayist, Chronist und Kritiker. Bis 2022 Herausgeber der Zeitschrift „Literatur und Kritik“. 1954 als jüngstes von vier Kindern einer donauschwäbischen Familie geboren, wuchs Gauß in Salzburg-Aiglhof auf. Studium der Germanistik und Geschichte. Er schrieb bald Porträts, Glossen, Feuilletons in großen Zeitungen des deutschen Sprachraums.
29 Bücher zählen zu Gauß’ Schaffen, plus Reisereportagen, Erzählungen in seinen „Journalen“ und das Befassen mit nationalen Minderheiten und Sprachgruppen.
Kommentare