Kandel: Die Bewältigung seines Traumas

Kandel: Die Bewältigung seines Traumas
Der Nobelpreisträger Eric Kandel, 1938 ins Exil gezwungen, im KURIER­- Interview: über die Nähe von Kunst und Wissenschaft ...

Eine Frage, sagt Eric Kandel, habe ihn seit seiner Jugend beschäftigt: "Warum konnten Menschen an einem Tag Mozart und Beethoven hören und am nächsten Tag Juden töten? Es war mir unverständlich, dass zivilisierte, kultivierte Leute so etwas tun."

Neun Jahre alt war der Sohn einer jüdischen Wiener Familie im Jahr von Österreichs Anschluss an das Dritte Reich; 1939 begann er in den USA ein neues Leben. Zunächst versuchte er, seiner großen Frage mit dem Studium der Literatur und Geschichte beizukommen. Der Kunsthistoriker Ernst Kris wies ihm schließlich den Weg zur Psychoanalyse, Kandel ging weiter und wurde einer der wichtigsten Hirnforscher des Jahrhunderts. Er erkundete insbesondere Merk- und Lernleistungen, 2000 erhielt er für seine Arbeit den Nobelpreis für Medizin oder Physiologie.

Belastung

Kandel: Die Bewältigung seines Traumas

"Ich fragte mich, warum ich mit diesen Dingen beschäftigte", sagt Kandel im Interview in einem Wiener Ringstraßen-Hotel. "Zu einem gewissen Grad ist es eine Antwort auf eine posttraumatische Belastungsstörung: Entweder man zerbricht daran oder man meistert sie. Ich habe sie in verschiedenen Weisen zu verstehen versucht, und dieses Buch ist ein weiteres Beispiel dafür."

"Das Zeitalter der Erkenntnis", Kandels jüngstes Werk, führt ins "Wien um 1900". Kandel bringt die Arbeit von Klimt und Kokoschka, Freud und Schnitzler in Verbindung mit der Wiener Medizinischen Schule und ihren Protagonisten Carl Rokitansky (1804–1878): Sie alle, so Kandels Ausgangsthese, wagten den Blick unter die Oberfläche und wiesen so den Weg in eine neue Zeit.

"Ich wollte einen Beitrag in Fortsetzung von Carl Schorske (Autor des Standardwerks "Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle", Anm.) leisten, aber die Wissenschaft mit einbringen", erklärt Kandel. "Zweitens habe ich einen generellen Drang dazu, Wissenschaft für den allgemeinen Leser zugänglich zu machen, und Kunst gibt mir eine Möglichkeit dazu. Drittens mag ich kein Gebiet betreten, in dem alle Probleme im Grunde gelöst sind und wo man nur noch einen Punkt hinzufügt. Auch wenn das Buch spät in meiner Karriere erscheint, bringe ich ein neues Problemfeld ein kleines Stück weiter."

Dialog

Das neue Feld, zu dem Kandel im Buch nach so umfangreichen wie gut lesbaren Ausführungen über die Biologie der Wahrnehmung und der Kreativität gelangt, ist der Dialog zwischen Neurowissenschaft, Geisteswissenschaft und Kunst. Dabei denke er niemals daran, dass das eine das andere ersetzen soll, beteuert er: "Wenn Sie mit jemandem in ein Museum gehen, der sich in der Kunstgeschichte auskennt, bereichert das Ihr Kunsterlebnis. Ich glaube, dass die Wissenschaft dasselbe zu tun vermag."

Gemäß Kandels These sei es ebenjener Dialog der Disziplinen gewesen, der im Wien von Schnitzler und Freud, Schiele und Kokoschka zu so herausragenden künstlerischen wie auch wissenschaftlichen Leistungen führte. Ob die Fortsetzung dieser Geschichte auch in Wien geschrieben werden kann? "Ich denke, dass die Wissenschaft in Wien derzeit recht interessant ist", sagt Kandel. "Einrichtungen wie das ISTA (Institute for Science & Technology in Maria Gugging, Anm.) sind ziemlich stark, und so denke ich, dass Österreich als signifikante Größe in der Wissenschaft zurückkommt. Es hat noch viel Weg vor sich, aber es geht in die richtige Richtung."

Für Kandel – seit 2009 Ehrenbürger der Stadt Wien – markierte zuletzt die Umbenennung des Karl-Lueger-Rings in "Universitätsring" einen wichtigen Punkt in der Aufarbeitung seiner persönlichen Wien-Beziehung. Die vielen Orden, die ihm sein Geburtsland im Laufe der Jahre umgehängt hat, seien ihm nicht wichtig, sagt er: "Was zählt, ist die Wärme, die Großzügigkeit und Freundschaft dahinter."

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