Rasch entwickeln sich faschistische Zustände. Die Erblindeten werden in Lagern interniert, sie verlieren ihre Menschenwürde, es kommt zu erschreckenden Ausbrüchen von Gewalt. Als schließlich alle Menschen blind sind, ziehen die Überlebenden ziellos durch verheerte Städte. Zum Schluss verschwindet die Blindheit so plötzlich wieder, wie sie ausgebrochen ist. Und es bleibt die Erkenntnis: Wir sind alle sehende Blinde, unsere Augen können zwar Bilder erkennen, aber wir sind unfähig zur Erkenntnis.
Faschismus?
Diesen Stoff für die Bühne zu bearbeiten, liegt in Corona-Zeiten nahe. Gleichzeitig ist das ein problematisches Statement, könnte man es doch als Unterstützung der sogenannten Corona-Skeptiker missverstehen. Aber anders, als es viele Verschwörungstheoretiker suggerieren, hat das Virus bei uns nicht den Faschismus zurückgebracht. Es hat jedoch zu einer Spaltung der Gesellschaft geführt, in die größere Gruppe derjenigen, die sich verantwortungsbewusst und solidarisch verhalten – und in die kleinere der Maskenverweigerer und Impfgegner, die „Freiheit“ als Recht interpretieren, andere gefährden zu dürfen.
Für das Theater in der Josefstadt hat Thomas Jonigk Saramagos Text dramatisiert. Zusammen mit Regisseurin Stephanie Mohr setzt er auf elegant komponierte Chorpassagen und bleibt dadurch Saramagos surrealistischem Tonfall treu.
Die Inszenierung sorgt zu Beginn für unsichere Lacher des Wiedererkennens, es gibt auch eine gut gespielte Sebastian-Kurz-Parodie. Als sich das Internierungslager in ein KZ verwandelt, bleiben dem Publikum die Lacher bald im Hals stecken. Die Szenen, in denen von Massenvergewaltigungen und Mord erzählt wird, sind kaum zu ertragen.
Gespielt wird ausgezeichnet. Sandra Cervik verkörpert die Hauptfigur: Sie behält als einzige ihre Sehkraft, kämpft mit allen Mitteln um ihr Leben und das ihrer Gefährten, und versucht, nicht den Verstand zu verlieren.
Roman Schmelzer, Martina Ebm, Ulrich Reinthaller, Marlene Hauser, Raphael von Bargen, Alexandra Krismer, Alexander Absenger, Julian Valerio Rehrl und Peter Scholz verkörpern großartig die Figuren in Saramagos Universum.
Am Ende gibt es freundlichen Applaus im nicht ausverkauften Theater für eine düstere, packende Vorstellung.
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