Isabelle Huppert: "Tschechow hätte diesen Krieg nicht gemocht“
Ja, sagt Isabelle Huppert, Theater ist für sie fordernder als Film, physisch fordernder. Zugleich aber ist Theaterspielen für sie „sehr belohnend. Im Endeffekt ist diese Belohnung stärker als der Aufwand. Das macht es wert, es zu tun. Es ist etwas Besonderes, vor lebendigen Menschen selbst lebendig zu sein, auch wenn diese im Dunkeln sitzen.“
Wie das Wiener Publikum kommende Woche, wenn Huppert – einer der größten Stars des europäischen Kinos und der Bühne – hier Theater spielt: Von 26. bis 28. Mai ist sie allabendlich (19.30, Halle E, Museumsquartier) in Tschechows „Der Kirschgarten“ zu sehen, inszeniert von Tiago Rodrigues.
Isabelle Huppert
wurde von der New York Times zur besten Schauspielerin der Welt gekürt. Sie hat u. a. mit Michael Haneke, Jean-Luc Godard, Claude Chabrol und Paul Verhoeven gearbeitet
Bei den Wiener Festwochen
Das Tschechow-Stück bringt Isabelle Huppert nach Wien: Am 26., 27. und 28. Mai (jeweils 19.30, Halle E im Museumsquartier) ist Huppert als Gutsbesitzerin Ljubow zu erleben. Die Koproduktions-Inszenierung von Tiago Rodrigues kam im Vorjahr in Avignon heraus. Tickets unter festwochen.at
Von ihren Rollen, hier der Gutsbesitzerin Ljubow, spricht Huppert lieber nicht als Rollen, sondern als Personen: „Das macht sie lebendiger – und realer.“
KURIER: Aber Tschechows Personal ist auch ziemlich abstrakt, nicht?
Isabelle Huppert: Tschechow geht es mehr darum, Geisteszustände zu beschreiben, Gedanken, Emotionen, Gefühle, als um Charaktere. Es gibt in seiner literarischen und theatralischen Vorstellung der Welt keine Psychologie,
Macht es das schwerer, diese Figuren zu spielen?
Eigentlich ist es leichter für mich. Denn ich muss keinen Charakter zusammenbauen. Das macht wirklich, wirklich frei! Frei, das zu tun, was man meint, nach seiner eigenen Wahrnehmung. Und Tschechow ist immer zwischen Komödie und Tragödie angesiedelt. Das macht ihn zu so einem Genie, zu so einem allgemeingültigen Autor.
Wer ist sie also, die Gutsbesitzerin Ljubow?
Sie ist so vielfältig. Sie kann in einer Sekunde ansatzlos von einem Gefühl zum anderen wechseln, sehr lustig sein und sehr traurig, melancholisch und sehr witzig und sehr verrückt! Man kann nichts erwarten. Tschechows Charaktere lassen sich nie ein begrenzte Muster einkerkern. Sie ändern sich von einer Produktion zur nächsten. Und Tiagos Inszenierung ist sehr persönlich.
Inwiefern?
Er vermeidet jede Konvention, jeden Samowar oder sonstige realistische Darstellungen von Tschechows Universum. Seine Inszenierung ist abstrakter: Auf der Bühne sind all dieses Sessel, auf denen wir stehen und sitzen können und die wir zusammenstapeln, um dieses große... ich weiß nicht ... Ende der Welt zu zeigen. Als Schauspieler sind wir so frei wie möglich. Und das ist es immer, was man will.
Will das auch der Regisseur?
Ein guter Regisseur gibt dir immer die Freiheit, das zu tun, was du tun musst. Selbst jemand wie Robert Wilson, dessen Universum so geometrisch ist, mit all diesen geraden Linien. Mit Tiago Rodrigues ist es das selbe: Er gibt dir Anweisungen, aber zwischen denen bist du frei, das zu erfinden, was du willst.
Ist diese Freiheit nicht auch kompliziert oder zumindest aufwendig?
Ich denke keinesfalls, dass sie kompliziert ist. Überhaupt nicht. Man ist ohnehin nie so frei, wie man glaubt. Die Bühne ist begrenzt, die Dauer des Stücks ist begrenzt. Im Gegenteil, es gibt alle Arten der möglichen Grenzen. Was gut ist! Denn man spielt immer zwischen diesen Grenzen und der angeblichen Freiheit.
Die Festwochen bewerben die Produktion damit, dass sie „endgültig dem Untergang geweihte Welt der Ausbeutung“, also unsere Welt, zeigt. Ist es wichtig, dass klassische Stücke ins Heute geholt werden?
Ich weiß nicht, ob es wichtig ist. Das würde bedeuten, dass wir es tun, weil wir es tun müssen. Aber es gibt beim Theater keine wirkliche Notwendigkeit. Die einzige Notwendigkeit ist, lebendig zu sein und dem Zuschauer Freude zu bereiten. Ich habe keine Botschaft zu überbringen. Wie mein Freund Michael Haneke sagt: Dafür gibt es die Post. Was wir tun, ist nicht wichtig, es ist nur gut, es zu tun.
Aber für das Publikum ist es schon wichtig, oder?
Für das Publikum ist es schön, ein großartiges Stück in einer großartigen Inszenierung zu sehen. Natürlich hallen Tschechows Worte nach. Für alle und für immer, seit er sie geschrieben hat.
Hallen sie auch politisch nach?
Theater ist, in einem breiteren Wortsinn, immer schon politisch gewesen, seit es begonnen hat. Denn es behandelt, wie die Menschen zueinander und zur Welt stehen. Ganz offensichtlich ist es das auch, was Tschechow in diesem Stück macht. Es ist sehr intim und persönlich. Und zugleich geht es um eine große soziale Umwälzung. Alles in einem Stück.
Ist es das, wofür man ins Theater geht?
Ich gehe ins Theater, um Menschen auf der Bühne zu sehen. Ich mag es, lebendige Menschen zu sehen. Aktiv und spielend und real. Und es ist alles andere als leicht, Menschen auf der Bühne lebendig werden zu lassen. Es ist aufregend, das zu tund, und aufregend, es zu sehen.
Und man hat es in der Pandemie vermisst.
Nicht wirklich. Ich nicht.
Wirklich nicht?
Nein. Das Leben ist stark genug. Und es war eine allgmeine Tragödie. Vielleicht ist eine Tragödie, die von allen geteilt wird, weniger schmerzhaft als eine, in der man alleine ist.
Vor einem Jahr haben sie verlangt, dass die Kinos wieder öffnen sollen. Hat sich das Kulturleben in Frankreich erholt?
Ja, aber mit gewissen Schwierigkeiten. Im Speziellen für manche Art von Filmen, von Kino. Wir spüren eine Zögerlichkeit bei den Menschen, wieder ins Kino zu gehen. Hoffentlich wird das besser. Sonst wird das ein bisschen ein Problem.
Sie haben gesagt, dass Theater für Sie fordernder ist, als einen Film zu machen.
Ja! Ein kleines bisschen, aber ja. Körperlich fordernder. Aber es ist auch sehr belohnend. Im Endeffekt ist diese Belohnung stärker als der Aufwand. Das macht es wert, es zu tun. Es ist etwas besonderes, vor lebendigen Menschen selbst lebendig zu sein, auch wenn diese im Dunkeln sitzen.
Müssen Sie die Rolle neu proben?
Ja, ich denke gleich nachdem wir fertig sind. Ich habe es seit März nicht mehr gespielt, ich muss mich sicher wieder damit beschäftigen. Aber sie ist sicher noch da, in einem kleinen Teil meines Gedächtnisses. Zumindest hoffe ich das!
Hinterlassen all diese Rollen, die Sie spielen, etwas in Ihnen?
Nein. Nichts. Ich hoffe, sie hinterlassen etwas in den Köpfen der Zuseher. Ich denke ja, denn einiges von dem, das ich mir angeschaut habe, ist noch da. Aber nichts von dem, was ich selbst spiele.
Seit der Erstaufführung letzten Sommer haben sich die politischen Umstände rund um die russische Kunst geändert. Es gibt sogar eine Diskussion darüber, ob russische Werke überhaupt gespielt werden sollen.
Dazu will ich nur sagen: Wir spielen Tschechow. Das ist die Antwort. Haben wir daran gedacht, damit aufzuhören? Nein. Oder aufzuhören, Dostojewski zu lesen? Nein. Tschechow hätte diesen Krieg nicht gewollt.
Die New York Times hat Sie zur besten Schauspielerin der Welt gekürt. Wie ist es, soetwas zu lesen?
Ich war sehr überrascht. Es war sehr, sehr unerwartet. Das Gute daran, Schauspieler zu sein, ist: Man macht es nicht alleine. Es ist ein gemeinsames Werk. Auszeichnungen und Rankings scheinen immer eine Person zu meinen. Aber in Wirklichkeit geht es nicht um dich allein. Es geht um jeden, mit dem du arbeitest. Insbesondere die Regisseure. Ich teile diesen Platz mit allen Regisseuren, mit denen ich gearbeitet habe.
Kommentare