Interview mit Viennale-Leiterin Eva Sangiorgi: "Es war ein extrem gutes Jahr“
Eva Sangiorgi freut sich über starke österreichische Filme, begrüßt den iranischen Dissidenten Mohammad Rasoulof als Star-Gast und denkt über das Kino in Zeiten des Rechtsrucks nach.
Die 62. Viennale (17. bis 29. Oktober) hat noch gar nicht begonnen, doch bereits jetzt ist der Vorverkauf stärker als noch im letzten Jahr. Viennale-Direktorin Eva Sangiorgi im Gespräch über die Rolle eines Filmfestivals in Zeiten des Besucherschwunds, ihre liebsten Star-Gäste und die Stärke des österreichischen Films.
KURIER:Nach der Pandemie kehren die Zuschauer langsam, aber doch stetig zurück in die Kinos. Inwiefern kann ein Filmfestival den Publikumszuspruch befeuern?
Eva Sangiorgi: Ja, es stimmt, dass das Publikum in die Kinos zurückkehrt. Das hat mich überrascht, weil mir natürlich schon klar ist, wie viele andere Möglichkeiten es heutzutage gibt, um Filme zu konsumieren. Die Gewohnheit ins Kino zu gehen, hat bei vielen Menschen nachgelassen. Trotzdem aber gibt es das Bedürfnis, zum Filmeschauen im Kino zusammen zu kommen und nicht nur alles zu Hause zu streamen. Ein Filmfestival wie die Viennale wirkt da wie ein Verstärker für das Kino. Es ist ein ganz besonderes Ereignis, das internationale Gäste und ihre Filme mit vielen Menschen zusammenbringt und starke Energie erzeugt. Der Kartenvorverkauf hat gerade erst begonnen und natürlich kann man noch nichts Genaues sagen, aber der Start ist bereits um fast fünf Prozent stärker als im Vorjahr.
Der Eröffnungsfilm „C’est pas moi“/„Das bin nicht ich“ stammt von Leos Carax und ist mit 42 Minuten überraschend kurz. Warum setzen Sie genau diesen Film an den Anfang des Festivals?
Carax’ Film legt in vielerlei Hinsicht interessante Fährten durch das Festivalprogramm. Er ist formal komplexer als die anderen Filme, die ich bislang zur Eröffnung gezeigt habe. Insofern stellt er eine größere Herausforderung ans Publikum dar, weil es sich um einen Filmessay handelt und nicht um eine „klassische Geschichte“. Er macht gleich von Anfang an klar, dass ein Festival sehr unterschiedliche Filmformate und -sprachen beinhaltet. Hinsichtlich der Themen, die „C’est pas moi“ anspricht, geht es einerseits um die sehr persönlichen Erinnerungen eines großen Regisseurs und seiner cinephilen Vorlieben. Andererseits geht es aber auch um eine historische Erinnerung an die letzten 80 Jahre unserer Geschichte, die Carax assoziativ und provokant aufruft – etwa Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg und den Faschismus. Dann gibt es aber auch noch eine dritte Ebene, in der er über die Verantwortung des Filmemachers und seinen Umgang mit Bildern reflektiert und sich auch mit der Manipulation von Bildern auseinandersetzt. Diesen Aspekt finde ich innerhalb eines Filmfestivals ganz besonders wichtig. So gesehen könnte man „C“est pas moi“ als eine Art ästhetisches Manifest lesen, das auch sehr stark an die Arbeiten von Jean-Luc Godard erinnert. Gleichzeitig ist es aber auch die sehr persönliche Arbeit eines Regisseurs, der über seine eigene Rolle als Filmemacher nachdenkt. Insofern ist sein Film der perfekte Auftaktfilm.
Inwiefern kann sich das Kino gegen den Rechtsruck stellen, den wir gerade in Europa beobachten?
Das Kino beschäftigt sich mit der Repräsentation der Realität durch Bilder. Propaganda arbeitet mit demselben Material. Insofern kann das Kino einen kraftvollen Gegenpol zur Propaganda herstellen, einfach deshalb, weil es andere Bilder der Realität zeigt. Die Frage stellt sich auch, inwiefern man mit seinen Filmen nicht nur die „eigene Blase“ erreicht, sondern auch andere Gesellschaftsschichten. Unsere Verantwortung als Viennale besteht darin, das Festival so offen und einladend wie möglich zu halten. Zugleich hat das Kino die Aufgabe, die Erinnerung an die Geschichte und geschehenes Unrecht wachzuhalten.
Letztes Jahr war Catherine Deneuve als Stargast angekündigt, wurde aber krank und musste absagen. Wer sind heuer die Star-Gäste der Viennale?
Für mich gibt es sehr heuer viele Star-Gäste. Wie schon gesagt, ist das Kino sehr stark mit Geschichte und mit politischer Verantwortung verbunden. Unser Hauptgast ist heuer jemand, dessen Filme davon Rechnung tragen: der iranische Regisseur Mohammad Rasoulof. Es ist ein großes Privileg, dass er nach Wien kommt. Rasoulof ist nicht nur ein außergewöhnlicher Zeuge all jener schrecklichen Ereignisse, die sich in der islamischen Republik Iran abspielen; er ist darüber hinaus auch ein großartiger Künstler. Ein anderer bedeutsamer Gast ist der chinesisch-malaysische Regisseur Tsai Ming-liang, ein ganz besonders politischer Filmemacher und vielfach ausgezeichneter Meister einer ganz anderen filmischen Tradition. Es kommen aber auch ein paar „alte“ Freunde der Viennale wie der Franzose Bruno Dumont, der Spanier Albert Serra oder der US-Regisseur Joshua Oppenheimer. Auch der italienische Regisseur Luca Guadagnino hat sich angekündigt, weil er den Film „Diciannove“ von Giovanni Tortorici produziert hat.
Letztes Jahr wollten Sie „The Zone of Interest“ zeigen, sind aber am Verleiher Constantin gescheitert.
Dieses Jahr verlief besser. Es gibt "The Outrun“ von Constantin, den ich zeigen kann. Ich wollte auch unbedingt „Baby Girl“ mit Nicole Kidman ins Programm nehmen, aber das war einfach nicht möglich. Ich konnte den Verleiher Constantin nicht überzeugen. Sie wollten „Baby Girl“ nicht im Rahmen eines Festivals zeigen. Das hat mich echt traurig gemacht.
Wir leben in Zeiten massiver Krisen. Inwiefern bildet sich das in Ihrem Filmprogramm ab?
Die Krieg in der Ukraine ist ganz explizit das Thema in „Dear Beautiful Beloved“ von Juri Rechinsky, der von dem grausamen Kriegsalltag berichtet. Aber es gibt auch Filme, die über einen längeren Zeitraum über Krisengebiete aus dieser Region erzählen wie beispielsweise „Antikvariati“ von der georgischen Regisseurin Rusudan Glurjidze. Er handelt von den Vertreibungen von Georgiern aus Russland in den Jahren 2006 bis 2008. Natürlich gibt es auch Filme, die vom Nahostkonflikt erzählen, ohne Bilder zu verwenden, die wir aus den Nachrichten kennen. Ein Beispiel dazu wäre der palästinensische Filmemacher Kamal Aljafari und sein poetischer Found-Footage-Essay über das untergegangene Land Palästina; oder „No Other Land“ des israelisch-palästinensischen Kollektivs über palästinensische Dörfer im Westjordanland.
Haben Sie Sorge, dass es bei Diskussionen über Filme zum Nahostkonflikt zu Kontroversen kommen könnte?
Nein. Ein Festival bietet den Raum für öffentliche Diskussionen, da kann es auch zu Kontroversen kommen. Demokratie bedeutet auch, Auseinandersetzungen auszuhalten und nicht Meinungen zu kontrollieren. Aber natürlich geht es auch darum, dass die jüngsten Ereignisse im Nahen Osten ausgewogen und keineswegs einseitig erinnert werden.
Nur ungefähr ein Drittel der Langfilme im Programm stammen von Frauen. Warum ist das Geschlechterverhältnis immer noch so unausgewogen?
Insgesamt habe ich schon das Gefühl, dass es besser und besser wird. Heuer habe ich persönlich besonders viele weibliche Filmemacher entdeckt. Dabei meine ich nicht nur junge Regisseurinnen, sondern auch solche in der Mitte ihrer Karriere wie eben die georgische Regisseurin Rusudan Glurjidze, Nora Fingscheidt und ihren neuen Film „The Outrun“ mit Soarsie Ronan oder Juliana Rojas, eine brasilianische Filmemacherin, der ich eine Monografie widme. Insofern habe ich schon das Gefühl, dass es viele neue weibliche Stimmen gibt. Aber natürlich ist das Geschlechterverhältnis in der Filmbranche noch sehr unausgewogen, und das ist traurig.
Es gibt sehr viele österreichische Filme im Programm. War heuer ein gutes Jahr?
Es war ein extrem gutes Jahr. Wir können heuer eine fantastische Generation junger österreichischer Filmschaffender präsentieren. Die Filme wurden auf vielen Festivals gefeiert – von „Mond“ von Kurdwin Ayub oder „Village Next to Paradise“ von Mo Harawe bis hin zu „Pfau – Bin ich echt?“ von Bernhard Wenger. Und dann gibt es auch kleinere Arbeiten wie „Dreaming Dogs“ von Elsa Kremser und Levin Peter. Es sind alles österreichische Filme, die starke andere Einflüsse zeigen. Sie sind sehr international in jeder Hinsicht.
Der Abschlussfilm „Dahomey“ von Mati Diop ist mit 68 Minuten ebenfalls sehr kurz und handelt von Restitution. Gibt es noch weitere Filme, die sich mit dem kolonialen Erbe und seinen Folgen beschäftigen?
„Dahomey“, der Gewinnerfilm der letzten Berlinale, handelt von 26 Kunstwerken aus dem afrikanischen Königtums Dahomey, die von den Franzosen geraubt und an den Benin zurückerstattet wurden. Zu anderen Filmen, die sich mit postkolonialen Themen beschäftigen, zählt etwa „The Ballade of Suzanne Césaire“. Dabei handelt es sich um ein Porträt von Suzanne Césaire, der Ehefrau des afrokaribisch-französischen Schriftstellers Aimé Césaire, der stark mit der surrealistischen Bewegung, aber auch stark mit dem erwachenden Bewusstsein über Kolonialismus verbunden war. Ein weiteres Beispiel wäre „Mário“, ein Film über Mário Pinto de Andrade, eine sehr wichtige Stimme im postkolonialen Afrika. In gewisser Weise ist sogar der Viennale-Trailer von Radu Jude, der die Tritsch-Tratsch-Polka von Strauss von einer rumänischen Hochzeitsmusikerin nachspielen lässt, ein Kommentar über kulturelle Aneignung.
Ihre drei persönlichen Film-Empfehlungen?
Da habe ich viele! Ich liebe alle Filme, aber einer davon wäre der Sci-Fi-Film „Happyend“ von Neo Sora, dem Sohn des japanischen Komponisten Ryuichi Sakamoto. „Happyend“ spielt in Japan und erzählt von einer jungen Generation. Diesen Film fand ich sehr schön. „The Damned“, ein Film von Roberto Minervini über den amerikanischen Bürgerkrieg, würde ich ebenfalls ganz besonders empfehlen. Und dann noch „Misericordia“ von Alain Guiraudie, ein sehr überraschendes und unterschwellig komisches Thriller-Drama.
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