„Altersmilde“ will Ulrich Seidl noch lange nicht sein. Trotzdem fühlt sich sein neuer Film „Rimini“ (derzeit im Kino) überraschend zärtlich an. In seinem melancholischen Männerporträt folgt er einem Ex-Schlagerstar namens Richie Bravo, kongenial gespielt von Michael Thomas, bei seinen tristen Auftrittsroutinen im verschneiten Rimini.
Ein Gespräch über Sex im Alter und Rimini im Schnee.
KURIER:Seit Ihrem letzten Spielfilm „Paradies: Hoffnung“ sind neun Jahre vergangen, seit der Doku „Safari“ sechs Jahre. Warum diese lange Pause?
Ulrich Seidl: Ursprünglich war unter dem Titel „Böse Spiele“ ein großes Projekt mit zwei Geschichten von zwei Brüdern geplant. Eine davon spielte in Rimini, die andere in Rumänien. Beide Filme wurden gleichzeitig gedreht. Aber später im Schneideraum hat sich herausgestellt, dass es zwei Filme geben wird.
Warum?
Es gab zuerst eine vernetzte Langfassung. Aber dann habe ich festgestellt, dass man als Zuschauer ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr genügend Emotion aufbringt, um zwischen den Geschichten hin- und her zu wechseln, weil sie beide sehr gefühlsintensiv und herausfordernd sind. Jetzt kommt man den Protagonisten in beiden Fällen viel näher, und die Filme haben dadurch gewonnen. Ich glaube, es war die richtige Entscheidung.
Waren die Dreharbeiten zu „Rimini“ sehr aufwendig?
Wir wollten in Rimini im Winter, in der Nachsaison drehen. Im Nebel. Allerdings ist der Nebel nicht gekommen, und ich habe das Team wieder nach Hause geschickt. Dann haben wir endlich zu drehen angefangen, als wieder strahlender Sonnenschein kam – und so ging es weiter bis in den Februar des darauffolgenden Jahres. Aber dann hatten wir das unglaubliche Glück mit dem Schnee, der plötzlich kam. Rimini hat noch nie so viel Schnee gesehen.
Die wenigsten Leute haben wahrscheinlich Rimini im Schnee gesehen. Es sieht sehr beeindruckend aus.
Es war ein immenser Glücksfall. Und man muss sich schon die Gegenfrage stellen: Ist es schöner, wenn Zehntausende Badegäste im Liegestuhl in der Sonne liegen? Ist nicht das die Tristesse? Die Winteransicht mit dem Nebel hat etwas Melancholisches, Tiefgründiges. Da ist man mehr bei sich, als wenn man im Liegestuhl liegt.
Was hat Sie an der Figur des Richie Bravo, seines Zeichens abgehalfterter Ex-Schlagerstar, interessiert?
Richie Bravo ist sehr facettenreich. Ich finde ihn deswegen interessant, weil er unter Umständen lebt, die recht negativ erscheinen und die manche Zuseher vielleicht nicht so gerne sehen: Er ist Alkoholiker, er hat die Spielsucht und er versucht, mit Liebesdiensten an älteren Damen Geld zu verdienen. Auf der anderen Seite ist aber ein Sänger, der das, was er singt, auch so meint. Mit seiner Stimme und seiner Inbrunst schafft er es, bei den Leuten anzukommen. Und das finde ich ganz toll. Er gibt den Menschen, die Schlager mögen, Hoffnung und auch ein bisschen Glück. Sie können durch ihn ihre Sehnsüchte und alles, was der Schlager in sich trägt, aufleben lassen. Es geht um die Liebe, um das Verlassen werden, den Schmerz der Trennung, Melancholie und Hoffnung.
Mögen Sie Schlager?
Ich mag eigentlich Schlager. In meinen Filmen gibt es oft Szenen, in denen meine Protagonisten Schlager hören. Ich bin schon als Kind mit Schlagern in Berührung gekommen, weil meine Eltern Dienstmädchen hatten, die Schlager im Radio hörten. Später, als Jugendlicher, habe ich in den 70-er Jahren Hitparaden gehört. Damals waren neben der Popmusik auch deutsche Schlager von Freddie Quinn oder Roy Black sehr präsent. Aber ich weiß natürlich, dass viele Menschen mit Schlagern nichts anfangen können und sie minderwertig finden. Aber ich sehe das nicht so. Ich finde, dass etwas drinsteckt. Ein Schlager mag vielleicht kitschig sein, aber er ist irgendwie auch wahrhaftig. Es ist stimmt ja auch, dass alle Menschen die Sehnsucht nach der großen Liebe, nach dem kleinen Glück haben.
Michael Thomas hat auch genügend Schmelz in der Stimme, um seine Rolle sehr überzeugend zu spielen.
Das ist auch ganz wichtig bei dieser Figur. Wäre er ein Zyniker, der nur singt, um Geld zu verdienen, würde diese Wahrhaftigkeit nicht rüberkommen.
Wie viel hat Michael Thomas, der ja tatsächlich auch Sänger ist, in die Figur mitgebracht?
Michael Thomas war der Ursprung dieser Figur. Ohne ihn würde es Richie Bravo nicht geben. Ich habe ihn im Zuge von meinem Film „Import, Export“ entdeckt, wo wir zusammenarbeiteten. Eines Abends habe ich erlebt, wie er plötzlich in einem Restaurant aufgestanden ist, das Mikrofon genommen und zu singen begonnen hat. Für mich war es faszinierend, wie er das Publikum für sich eingenommen hat. Er ist ein Charmeur der alten Schule. Daraus ist dann in weitere Folge die Idee für diese Figur entstanden.
Recht witzig ist die Szene, in der er sich ein Korsett umschnallt, um seinen Bauch zu bändigen. War das seine Idee?
Nein, das war nicht seine Idee. Das hat er nicht so gerne gemacht (lacht). Jeder Schauspieler ist auf die eine oder andere Art eitel – und Michael Thomas natürlich auch. Aber er hat beispielsweise den Seehundmantel, den er im Film trägt, selbst mitgebracht. Er hat ihn auf dem Flohmarkt gekauft hat. Das war genial. In meinen Filmen ist es natürlich auch immer so, dass es eine starke Verbindung zwischen einem Menschen und seiner Rolle gibt.
Gibt es tatsächlich Schlagersänger, die im Winter in Urlaubsorten für ihre Fans auftreten?
Ja. Aber um die Wahrheit zu sagen, schrieb ich die Geschichte – gemeinsam mit Veronika Franz –, ohne zu wissen, dass es sie gibt. Später habe ich dann eine Szene mit der Jazz Gitti gedreht, die einen Gastauftritt bei Richie Bravo haben sollte. Im Film sieht man diese Szene nicht, weil sie letztendlich keinen Platz mehr gehabt hat. Aber Jazz Gitti hat mir erzählt, dass sie jahrelang im Autobus gemeinsam mit ihren Fans irgendwo hingefahren ist – etwa an die Adria oder an die kroatische Küste. In diesen paar Tagen hatten die Fans die Möglichkeit, ihr Idol – also die Jazz Gitti – hautnah zu erleben. Das war für die Sänger angeblich ein sehr gutes Geschäft. Also das gibt es.
Sie zeigen auch einige Sexszenen, die insofern ungewöhnlich sind, als ältere Menschen involviert sind. Das sieht man im Kino nicht so häufig. Aber es ging Ihnen hier nicht um Provokation, oder?
Provokation liegt mir in diesem Zusammenhang fern. Ich wollte die Szene sehr echt zeigen. Es geht um Frauen und Männer, die schon älter sind und so aussehen., wie sie aussehen. Das hat gar nichts mit Attraktivität zu tun, sondern das ist die Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit wollen manchen Menschen nicht sehen, weil ihre Sicht durch geschönte Bilder verstellt ist. Sie sind gewöhnt, dass man mit Sexualität schöne, junge Körper verbindet. Die Szenen sind übrigens alle improvisiert. Man darf als Schauspieler und als Schauspielerin keine Tabus im Kopf haben – sonst lässt sich das nicht spielen.
Haben Sie das Gefühl, dass „Rimini“ zärtlicher ist als Ihre vorhergehenden Filme?
Ich habe nicht das Gefühl. Man fragt mich immer wieder, ob ich jetzt altersmild geworden sei. Wenn, dann unbewusst. Aber ich persönlich sehe keinen Unterschied in meinem Zugang zu den Menschen in „Paradies: Liebe“ im Vergleich zu diesem Film. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich Margarethe Tiesel oder Maria Hofstätter anders gesehen oder härter dargestellt habe als jetzt Richie Bravo und die Frauen, mit denen er ins Bett geht. Aber vielleicht ist es doch so.
Sehr berührend ist auch die Szene mit Hans-Michael Rehberg, der kurz darauf verstorben ist. Wie haben Sie die Dreharbeiten, die ja seine letzten waren, empfunden?
Ich habe ihn kennengelernt, als er schon schwer krank war. Die Rolle hat ihn sehr interessiert, aber er hat sie sich nicht zugetraut. Es war seine Frau, die ihm zugeredet hat. Und letztlich ist er auf alles eingegangen. Ich bin mit Hans Michael Rehberg nach St. Pölten in das Heim gefahren, wo wir gedreht haben. Er war schon sehr geschwächt und erschöpft. Aber sobald wir zu drehen begonnen haben, war er wie ausgewechselt: unglaublich diszipliniert, mit einer Ruhe und einer inneren Freude. Aber natürlich hat er gespürt, dass sein Leben zu Ende geht. In der Szene, wo dann das Schubert-Lied erklingt, muss man weinen. Die Aufnahme des Liedes „Gute Nacht“ aus der „Winterreise“ singt übrigens Richard Tauber, ein jüdischer Emigrant aus Österreich, der nach England auswandern musste. Er singt sehr berührend. Und dass man, wie die Figur des Hans-Michael Rehberg, kurz vor seinem Tod nach der Mutter weint, habe ich selbst bei einem Freund von mir erlebt, der an Krebs gestorben ist. Wenn sich der Tod bemerkbar macht, schreit man nach der Mama.
Sie sind nicht nur Filmemacher, sondern treten auch als Produzent auf. Jetzt hatte beispielsweise Kurdwin Ayubs „Sonne“ auf der Diagonale Premiere. Wie definieren Sie für sich diese Rolle?
Ich bin zunächst ein Ermöglicher. Wir wollen in der Firma einer nachfolgenden Generation von Filmemachern und Filmemacherinnen ermöglichen, ihre Filme zu machen. Das heißt, ihre künstlerischen Visionen umzusetzen und nicht, sie auf einen bestimmten Weg zu bringen, von dem man glaubt, er könnte ein Publikum bringen. Das genau nicht. Und wenn es sich in einem bestimmten finanziellen Rahmen bewegt, haben alle Filmemacher und Filmemacherinnen alle Freiheiten. Das meiste, das heutzutage produziert wird, ist zweckgebunden. Das finde ich falsch. Ich finde auch, dass der Produktionsrahmen vieles an Entfaltung verhindert. Ich glaube, dass viele Filme besser wären, wenn sie einen freieren Rahmen hätten und nicht auf Knopfdruck funktionieren müssten. Wir sind nicht dazu da, um Filme von der Stange zu produzieren. Wie produzieren individuelle Filme.
Denken Sie darüber nach, ob ein Film, den Sie produzieren, beim Publikum ankommen wird?
Das interessiert mich gar nicht. Wir Produzenten können uns nur bemerkbar machen, wenn wir eigene, unverwechselbare Filme machen. Natürlich freut man sich, wenn ein Film erfolgreich ist. Aber es ist meines Erachtens falsch, beim Produzieren eines Films schon auf das Publikum zu schielen oder ein Drehbuch auf einen möglichen Erfolg hin zu verändern. Die Stärke ist das Eigene und nicht das Funktionieren nach dramaturgischen Regeln.
Was hat sich durch die Pandemie für die Filmlandschaft verändert?
Alles ist ungewiss geworden ist. Verleiher und Kinobetreiber haben Geld verloren und greifen daher hauptsächlich zu Filmen, von denen man meint, dass sie besonders publikumswirksam sind. Da ist kein Risiko dabei. Das ist im Sinne der Filmkunst ganz schlecht. Wenn nur noch nach Kommerzialität entschieden wird, dann haben Filme, die besonders sind und die etwas riskieren, keine Spielstätte mehr. Es gibt auch um vieles weniger Kinozuschauer als noch vor ein paar Jahren. Die Frage ist, wie es mit der Entwicklung vom Streaming und Heimkino weiter geht. Und ob man Nachfolgegenerationen wieder verstärkt fürs Kino begeistern kann.
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