Interview mit Pernille Fischer Christensen: Benimm’ dich!

Alba August (li.), Tochter von Regisseur Bille August, spielt die junge Astrid Lindgren
Pernille Fischer Christensens neuer Film erzählt über die skandalöse Schwangerschaft der jungen Astrid Lindgren: „Astrid“.

Astrid Lindgren, die Mutter von Pippi Langstrumpf, wurde bereits in sehr jungen Jahren selbst Mutter. Ungeplant und unehelich. Ein Skandal. Wie die damals erst 18-jährige mit dieser schwierigen Situation fertig wurde, erzählt die dänische Regisseurin Pernille Fischer Christensen in ihrem eindringlichen Film „Astrid“ (derzeit im Kino).

KURIER: Wenn man an Astrid Lindgren denkt, hat man meist das Bild einer alten Frau vor sich.

Pernille Fischer Christensen: Das ging mir genauso. Ich habe immer an sie als alte Frau gedacht. In Schweden nannte man sie die „Märchentante“, allerdings sehr respektvoll. Sie wurde als Genie gehandelt, fast schon als übermenschlich. In Skandinavien war sie wie ein moralischer Kompass, der einem anzeigte, was richtig und was falsch war. Sie sagte immer ihre Meinung und hatte vor allem in Schweden unglaublichen Einfluss.

Sie erzählen die Geschichte einer blutjungen Astrid Lindgren, wie sie keiner kennt. Was hat Sie dazu inspiriert?

Ich habe in einer dänischen Zeitung durch die Kulturseiten geblättert, und plötzlich ist mir das Bild einer jungen Frau ins Auge gestochen, weil mir ihr Mantel gefiel. An der Hand hielt sie einen kleinen Buben, und die Bildunterschrift lautete: „Astrid und der kleine Lasse in der Allee der Hoffnung“. Ich dachte noch: „Welche Astrid? So hat sie als junge Frau ausgesehen? Und was macht sie ihn Kopenhagen?“ Der Artikel bezog sich auf ein Fotobuch über das Leben Astrid Lindgrens, das ich gleich für meine Mutter kaufte. Geschenkt habe ich es ihr allerdings nie, denn die Fotos haben mich umgehauen.

Was war das Besondere an diesen Astrid-Lindgren-Fotos?

Sie reichten von der frühen Kindheit bis zum Begräbnis. Die Kinderfotos sind fantastisch, besonders eines: Da sieht man eine Schulklasse, in der alle Kinder mitsamt der Lehrerin brav aufgereiht nebeneinander sitzen. Nur ein Mädchen steht und schneidet eine Grimasse. Es ist eines jener Kinder, zu denen man typischerweise sagt: „Bitte setz’ dich hin und benimm dich.“ Und das ist Astrid Lindgren. Man sieht in dem verrückten, glücklichen Kind ein Stück Pippi Langstrumpf. Die anderen Kinderfotos sind ähnlich. Doch dann ändern sich die Bilder: In den Fotos von Astrid als junger Frau entdeckt man plötzlich Schmerz. Sie sieht sehr unglücklich und abgemagert aus, wie jemand, der unter etwas leidet. Da habe ich mich gefragt: „Was ist da los?“

 

Interview mit Pernille Fischer Christensen: Benimm’ dich!

Pernille Fischer Christensen, dänische Regisseurin von "Astrid"

 

Tatsächlich erzählen Sie nur einen kurzen Ausschnitt aus Astrid Lindgrens Leben. Wie sind Sie zu dieser Entscheidung gekommen?

Ich habe begonnen, mich in ihr Leben einzulesen und mir überlegt, einen Film zu machen, der wichtige Jahre aus ihrem Leben erzählt. Ich hatte einen Film wie „The Hours“ (der lose aus dem Leben von Virginia Woolf erzählt, Anm.) vor Augen, und dachte daran, verschiedene Zeitebenen zu mischen. Doch dann ergab sich, dass sich das pure Drama, das ich erzählen wollte, genau in jenen drei Jahren abspielte, als sie schwanger wurde und ihr Kind weggeben musste. Sie war selbst noch beinahe ein Kind und hat ein Kind – Lasse – geboren, das sie dann verlassen musste. Auf diesen Lebensabschnitt habe ich mich konzentriert, zumal ich auch glaube, dass er ihre literarische Arbeit stark beeinflusst hat.

Inwiefern?

Es gibt so viele einsame Kinder in ihren Büchern, so viele Kinder ohne Eltern: Pippi Langstrumpf hat keine Mutter, ihr Vater fährt zur See; Mio aus „Mio, mein Mio“ hat keine Eltern, Ronja aus „Ronja, Räuberstochter“ muss ihre Eltern verlassen und „Michel aus Lönneberga“ liegt mit seinen Eltern dauernd im Clinch. Für mich sind das klare Spuren aus ihrer Vergangenheit. Vielleicht sind es auch einfach nur ihr Interesse und die Empathie für Kinder, die von damals rühren.

Sind Sie mit Astrid-Lindgren-Bücher aufgewachsen?

Ja, wie die meisten Kinder. Ich selbst bin ja Dänin, doch wir haben jeden Sommer in Schweden verbracht, in Småland, wo auch Astrid Lindgren herkommt. Dort lebten wir sehr primitiv, nur mit Büchern. Wenn mich heute jemand fragt, welcher Künstler oder welche Künstlerin mich am meisten in meinem Leben beeinflusste, erwarten die Leute eine Antwort wie Michael Haneke oder Ingmar Bergman. Doch ich sage immer Astrid Lindgren. Sie war die erste, die tiefe Fragen über das Leben stellte: Über Identität und Gender, wenn man an Pippi Langstrumpf denkt; über den Tod, wenn man an die „Brüder Löwenherz“ denkt; oder auch ganz allgemein über Einsamkeit und Sehnsucht nach Freundschaft.

Trine Dyrholm spielt eine wichtige Rolle als dänische Pflegemutter, die Astrids Kind aufnimmt. War das eine historische Tatsche – dass Schwedinnen mit unehelichen Kindern nach Dänemark reisten?

In Schweden mussten Frauen, die ein Kind auf die Welt brachten, den Namen des Vaters nennen, sonst wanderten sie ins Gefängnis. In Dänemark hingegen gab es in den Jahren zwischen 1922 und 1924 viel Diskussionen über uneheliche Schwangerschaften und illegale Abtreibungen, die vielen Frauen auch das Leben kosteten. Schließlich wurde ein Gesetz verabschiedet, das erlaubte, dass man in Dänemark ein Kind gebären konnte, ohne den Vater zu nennen. Viele Schwedinnen kamen in dieser Zeit nach Dänemark und brachten dort ihre unehelichen Kinder zur Welt. Und viele ließen sie dort zurück und kamen nie wieder. Nicht so Astrid Lindgren: Sie hielt durchgehend Kontakt zu ihrem Sohn. Auch in dieser Hinsicht war sie außergewöhnlich.

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