Nora Fingscheidt: Als ich das Wort das erste Mal hörte, hat es mich total beeindruckt und ich dachte: Wow, das klingt so kraftvoll! Gleichzeitig geht es um ein tragisches Phänomen: um ein Kind, das nirgendwo ankommt.
Ist "Systemsprenger" ein Fachbegriff?
Es ist kein offizieller Begriff, aber am Jugendamt weiß jeder, was gemeint ist.
Warum wollten Sie einen Film über ein wütendes Mädchen machen?
Seit ich Filme drehe, will ich einen Film über ein sehr wildes, wütendes Kind machen. Das hat mir gefehlt, denn ich habe selten einen Film über ein kleines Mädchen gesehen, das richtig wütend ist. Das hat, glaube ich, persönliche Grüne, weil als Kind sicher auch oft wütend war. Viele Jahre später war ich mit einem völlig anderen Projekt beschäftigt, als dieser Begriff zu mir kam. Da wusste ich: Jetzt verbindet sich etwas, was für mich persönlich, aber auch gesellschaftlich relevant ist.
Meinen Sie, dass im Kino das Wildsein in erster Linie den Buben vorbehalten ist?
Auf jeden Fall. Die Mädchen, die ich aus Kinofilmen kennen, sind meist sehr ruhig und niedlich und eher zuhörend. Sie haben natürlich oft eine wahnsinnig tolle Ausstrahlung und Kamerapräsenz, sind aber doch immer irgendwie so ein bisschen bemitleidenswert. Und das wollte ich auf keinen Fall.
Haben Sie sich von Coming-of-Age-Filmen inspirieren lassen?
Ich habe viele Filme angeschaut, die Kinder porträtieren, die es besonders schwer hatten. Das ist ein wiederkehrendes Motiv, und Benni ist eine moderne Version davon. „Sie küssten und sie schlugen ihn“ von François Truffaut hat mich sehr berührt. Oder ein Film von 1982, der „Made in Britain“ heißt und in dem Tim Roth einen Teenager-Neonazi spielt: Der Film hat eine Energie und Radikalität, dir für „Systemsprenger“ ein Vorbild war.
Die elfjährige Helena Zengel leistet als tobende Benni Unglaubliches. War es schwierig, ein Mädchen zu finden?
Ja, das hätte ich auch gedacht – dass es unmöglich sein wird, ein Kind zu finden, dass das spielen kann; und Eltern, die dem zustimmen. Aber wir hatten Riesenglück: Helene Zengel war das siebente Kind beim Casting. Ich habe dann noch weitere 150 Mädchen gecastet, weil ich dachte, dass so ein Kind nicht von einer Casting-Agentur kommen würde, sondern dass ich es in einem Kampfsportverein finden müsste.
Wie haben Sie die Kinder vorsprechen lassen? Mit improvisierten Schreianfällen?
Ich habe zwei Szenen mit ihnen gespielt. Die eine war eine Improvisationsübung, bei der sie einen männlichen Schauspieler aus den Raum hinaus bekommen mussten, egal wie: Verbal oder mit Schieben, Treten, Werfen – was auch immer. Die zweite war dann eine sehr leise Gesprächsszene. Ich wollte herausfinden, ob sich das Kind vorbereiten und einen Text merken kann. Es ging darum, die Bandbreite zwischen Aggression und Verletzlichkeit zu finden.
Ihr Film ist anstrengend anzusehen, weil er auf hohem Dezibel-Niveau stattfindet. War der Dreh auch fordernd?
Ja, der Dreh war auch anstrengend, aber nicht so sehr wie der Film (lacht). Es ist natürlich eine riesige Verantwortung, mit Kindern zu arbeiten und darauf zu achten, dass niemand beschädigt wird. Der Film muss anstrengend sein, weil auch Benni für die Erwachsenen anstrengend ist. Umgekehrt sind auch für sie die dauernden Ortswechsel anstrengend. Diese Überforderung wollte ich in der ersten Hälfte des Filmes darstellen; gegen Ende wird es ruhiger.
Man fragt sich natürlich: Wer ist „schuld“ daran, dass Benni so schwierig ist?
Wir haben versucht, nicht den Zeigefinger zu erheben und zu sagen, das System, die Mutter, oder Benni seien schuld. Es ist ein Einzelfall, in dem viele Mechanismen zusammen spielen. Bei jedem Systemsprenger-Kind muss man ganz genau hinschauen.
Es kommt unter den Jugendhelfern die Idee auf, Benni nach Kenia zu verschicken. Das klang sehr verblüffend.
Es gibt intensiv-pädagogische Projekte im Ausland, und manche sind gar nicht so schlecht. Es gibt sie auf den Kanarischen Inseln, in Norwegen, Sibirien... Man versucht, das Kind aus seinem Umfeld herauszuholen, wo es immer wieder in Muster von Gewalt oder Drogen zurückfällt. Natürlich sind solche Projekte auch umstritten, denn wenn es nicht klappt, hat das Kind wieder eine Abbrucherfahrung – aber diesmal 5000 Kilometer entfernt.
Kommentare