Interview mit Jessica Hausner: Eine Frage der Verführbarkeit
Als Jessica Hausner ihren neuen Film „Club Zero“ (derzeit im Kino) in Cannes im Wettbewerb zeigte, waren viele Zuschauer im Publikum schockiert. Die Geschichte einer Gruppe von Schüler und Schülerinnen, die in den Bann ihrer neuen Lehrerin Ms. Novak (Mia Wasikowska) geraten, war nicht für alle leicht verdaulich. Unter dem Motto „Bewusste Ernährung“ beginnen die Teenager einer britischen Elite-Schule zuerst wenig und dann gar nichts zu essen. Mit gewohnt stilistischer Strenge und unterschwelligem Humor erzählt Jessica Hausner in ihrer exzellenten Satire „Club Zero“ von einer Konsumgesellschaft auf der Suche nach Sinn und Zugehörigkeit.
Ein Gespräch mit der Regisseurin über Sekten, Verführbarkeit und eine Generation unter dem Damoklesschwert des Klimawandels.
KURIER: Frau Hausner, Sie erzählen von einer Gruppe von Schüler und Schülerinnen, die unter Anleitung ihrer Lehrerin die Nahrungsaufnahme verweigern. Trotzdem ist „Club Zero“ nicht in erster Linie ein Film über Anorexie. Stimmen Sie dem zu?
Jessica Hausner: Ja, dem stimme ich zu. Es geht eher um eine Glaubensfrage. Wie kann eine Idee in den Köpfen einer Gruppe so mächtig werden, dass es für die Personen zur Wirklichkeit wird? Es geht also eher um die Frage, wie Ideologie eine derartig starke Überzeugungskraft entwickeln kann.
Insofern ist der Vorwurf, das Thema Magersucht wäre nicht realistisch genug dargestellt, verfehlt.
Genau. Ich wähle extra einen Erzählstil, der nicht nach Realismus aussieht. Ich wollte auch visuell signalisieren, dass die Geschichte eine leicht überhöhte Darstellung ist und von etwas allgemein Menschlichem handelt. Es geht um Verführbarkeit und darum, dass Gedanken verführbar sind. Ich wollte der Frage nachgehen, wie man von einer argumentativ starken Leitfigur auf einen Weg gebracht werden kann, der ganz schön absurd ist.
Was war der Ausgangspunkt des Films?
Der Ausgangspunkt war die Idee, einen Film über eine manipulative Lehrerin zu machen. Es hat sich dann relativ schnell ergeben, dass es um Nahrung gehen soll. Das hat damit zu tun, dass Essensaufnahme für den einzelnen, aber auch für eine gesamte Gesellschaft lebensnotwendig und wichtig ist. Innerhalb unserer Gesellschaft gibt es rund ums Essen bestimmte Abläufe und Rituale. In Österreich beispielsweise wird üblicherweise etwa um sieben Uhr abends gegessen. Dann trifft sich die Familie. Wenn aber ein Familienmitglied sagt, es will nicht mitessen, wirkt das als Angriff auf die anderen. Rituale nicht mitzumachen wird als Regelbruch empfunden. Das ist interessant. Deswegen habe ich mich für das Essen entschieden, weil Essen existentiell und nie ideologiefrei ist.
Welche Art der Ideologie hat Sie daran interessiert?
Mich interessierte vor allem der Aspekt des „wellbeing“, also des Wohlbefindens. Das wird heutzutage auf vielen verschiedenen Ebenen propagiert. Man soll glücklich sein, gesund sein und möglichst ewig leben (lacht). Es geht also immer um Selbstoptimierung. Ich finde, der Anspruch unserer Gesellschaft an den Einzelnen ist massiv hoch. Das spielt sich in ganz vielen Bereichen ab und ist auch Thema meines vorigen Spielfilms „Little Joe“. Die Vorstellung, dass man für den optimalen Verlauf des eigenen Lebens verantwortlich gemacht wird, ist ganz schön bedrohlich. Da kommt die Ernährung ins Spiel: Man muss sich gesund ernähren, um der Krankenkasse weniger Geld zu kosten.
Der Ausgangspunkt der Schülergruppe für „Bewusstes Essen“ ist durchaus vernünftig. Kritisiert wird der Überkonsum, die manipulative Nahrungsindustrie, die Zerstörung der Umwelt …
Das ist alles richtig. Ich fand es spannend zu sagen: Die Gruppe startet von einem richtigen Ansatzpunkt. Daraus ergibt sich natürlich die interessante Frage: Wie können sie sich so verlaufen? Wie kommt es dazu, dass aus völlig vernünftigen Ideen etwas völlig Extremistisches und Absurdes wird? Aber genau das passiert. Und das hat viel damit zu tun, dass sich die betroffenen Personen nicht gehört fühlen. Sie haben Anliegen, die wichtig sind aber viel zu wenig ernst genommen werden von der Generation der Erwachsenen. Sie sehnen sich nach Zugehörigkeit und Sinn. Und das liefert ihnen die Gruppe um Ms. Novak.
Ist Ms. Novak, die Lehrerin, die ja ursprünglich sehr richtige Sachen sagt, eine positive oder eine negative Figur für Sie?
Das interessante für mich an dieser Figur ist, dass sie glaubt, gut zu sein. Darin ist sie sehr ehrlich. Sie ist wirklich davon überzeugt, dass das, was sie den Kindern erzählt, richtig ist und dass sie damit die Kinder und die Erde retten kann. Aus einer anderen Perspektive heraus betrachtet, ist es falsch, was sie macht. Ich suche oft in meinen Filmen nach genau solchen Situationen, in denen die Argumentation schwierig wird, weil jemand felsenfest von seiner Sache überzeugt ist. Für diese Person handelt es sich dann um die Wahrheit. Und es ist unfassbar schwierig für Andersdenkende, diese Einstellung zu akzeptieren und zu respektieren.
Es fällt ja auch der denkwürdige Satz: Warum soll ich etwas wissenschaftlich überprüfen, wenn es für mich persönlich funktioniert?
Ja, das ist schwer auszuhalten. Aber das finde ich interessant, und das hat mich bei den Recherchen betroffen gemacht. Wir haben auch ehemalige Sektenmitglieder getroffen, die von ihren Sektenführern erzählt haben. Diejenigen, die als Sektenführer am meisten überzeugen, sind diejenigen, die wirklich glauben, was sie sagen.
Welche Regieanweisungen haben Sie Mia Wasikowska als Ms. Novak gegeben?
Mia Wasikowska war bei den Treffen mit den Sektenmitgliedern dabei, die von ihren Cult-Leadern erzählt haben. Wir haben viel darüber diskutiert, was für eine Figur Ms. Novak ist: Ist sie eine Psychopathin? Ist sie bösartig und manipulativ? Oder ist sie eine Gläubige, eine Heilige? Wir haben uns dann für Letzteres entschieden: Sie ist wahrhaft gläubig. Das ist viel unheimlicher.
„Club Zero“ zieht verschiedene Erzählregister – manchmal mehr dramatisch, dann wieder schwarzhumorig. Wo würden Sie Ihren Film ansiedeln?
Ich habe bei „Club Zero“ eigentlich nicht in Genre-Kategorien gedacht. Bei „Little Joe“ schon eher, weil klar war, dass ich als Grundlage den Science-Fiction-Thriller verwende und dann die Geschichte in eine andere Richtung lenke. Das war bei „Club Zero“ nicht der Fall. Da hatte ich das Gefühl, dass ich meinen eigenen Stil erfinde.
Auffallend ist natürlich Ihre artifizielle Art und Weise zu erzählen, seien es die ungewöhnlichen Kamerabewegungen oder der atonale Soundtrack. Warum diese Verfremdung?
Das mache ich bei allen meinen Filmen. Dieses stilistische Kriterium zieht sich in meiner Arbeit durch. Ich versuche gleich vorneweg stilistisch klar zu machen, dass es mir nicht um tagesaktuelle Politik oder soziologische Analysen geht. Das sollen andere machen. Das hier ist ein Kunstwerk. Es geht immer darum, Widersprüchliches darzustellen: Wer hat recht, wer hat nicht recht und wer maßt sich an, das beurteilen zu können?
Sie erzählen sehr empathisch von Ihren Figuren, aber richtig zum Identifizieren laden Sie nicht ein. Sie bleiben lieber distanziert?
Ich glaube nicht an das Identifikationskino (lacht). Das ist gar nicht meins. Im Gegenteil, ich möchte erzählen, dass es eigentlich nicht möglich ist, einen anderen Menschen wirklich zu verstehen. Ich sehe uns alle aus einer leicht distanzierten Perspektive und versuche von da aus zu beschreiben, wie wir Menschlein halt so sind.
Auffallend ist auch die sehr signifikante Farbgebung Ihrer Filme. Die Schuluniform der Schüler ist beispielsweise ein recht giftiges Gelb.
Meine Schwester, die Kostümbildnerin Tanja Hauser und ich finden die Farben und den Kleidungsstil in meinen Filmen immer gemeinsam. Daraus leitet sich dann die gesamte Farbästhetik des Films ab. Bei den grellgelben Schuluniformen dachten wir an Frühlingsblumen. Die Assoziation mit dem hellen Gelb sind die Frische des Frühlings, aber auch die Zartheit der Jugend und die Verletzlichkeit junger Menschen. Was die Wahl der Schule betrifft, in der wir gedreht haben, so wollte ich in keine Harry-Potter-Ästhetik tappen. Ich wollte etwas Zeitloses finden. Das Gebäude stammt von Arne Jacobsen aus den 60er-Jahren.
In „Club Zero“ schimmert immer auch eine gewisse Komik durch, trotz des ernsten Themas.
Ja, der Humor ist mir sehr wichtig. Und ich denke auch viel über Humor nach. Wenn ich beginne, eine Geschichte zu konzipieren, versuche ich immer, einen humorvollen Tonfall zu finden. Es ist aber kein Schenkelklopfer-Humor, sondern ein seltsames Lachen, das entsteht, weil eine Situation absurd ist. Mich interessiert Absurdität. Das Absurde entsteht oft, wenn man sich selbst zu wichtig nimmt. Aber aus einer anderen Perspektive ist es halt nicht so wichtig. Diese Art von Humor gibt es auch in „Club Zero“. Bei der Vorführung des Films fangen die meisten Leute schon ganz am Anfang an zu lachen, wenn ein Vater seiner Tochter erklärt, Kinder müssten ihr Konsumverhalten einschränken. Und dann sieht man eine Totale auf sein riesiges Haus mit Swimmingpool. Es ist ein seltsamer Humor, der sich bei mir durchzieht.
Apropos Vater: Die Eltern stehen ihren Kindern völlig hilflos gegenüber. Was könnten sie tun?
Selbst wenn diese Eltern alles falsch machen – und wir als Zuseher empfinden das so – ist es nicht so, dass irgendwer von uns wüsste, wie's richtig geht. Es gibt ja diesen Spruch, dass man als Eltern nicht alles richtig machen kann. Mich hat berührt, dass sich die Eltern sehr bemühen, aber trotzdem nicht an ihre Kinder herankommen. Wahrscheinlich haben sie zu wenig Zeit für ihre Kinder.
Sie haben sich zu Recherchezwecken auch mit Schülerinnen und Schüler getroffen. Was haben Sie sie gefragt?
Ich habe sie gefragt, wofür sie sich interessieren und worüber sie sich Sorgen machen. Es ging auch um Essverhalten, Essstörungen und Selbstverletzung. Ich habe versucht, die Verletzlichkeit dieser jungen Menschen zu begreifen und herauszufinden, wonach sie sich sehnen und wo sie sich in unserer Gesellschaft vernachlässigt fühlen.
Haben Sie große Unterschiede zu Ihrer eigenen Generation feststellen können?
Ein kompletter Unterschied zu meiner eigenen Jugend ist tatsächlich die Bedrohung durch den Klimawandel. Diese Bedrohung mach sehr vielen jungen Menschen zu Recht wirklich Angst, und sie beschließen dagegen zu kämpfen und bestimmte Maßnahmen durchzusetzen – was ich total verstehe. Am Ende meiner Interviews habe ich mir gedacht: Wow, das ist eine Generation, die wirklich unter dem Damoklesschwert lebt. Das ist das, was ich am meisten davon mitgenommen habe.
Sie haben an der Filmakademie angehende Filmemacher und Filmemacherinnen unterrichtet. Was sind die Erzählstoffe, die eine junge Generation interessiert?
Das Thema Geschlechtszugehörigkeit ist gerade ein sehr vorherrschendes Thema. Die Möglichkeit non-binär, also weder Mann noch Frau zu sein, ist ein sehr interessanter Aspekt. Das öffnet ein Fenster und wirft Klischees durcheinander. Ich persönlich finde das großartig und befreiend. Es eröffnet neue Möglichkeit und hilft auch dem Feminismus.
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