Joan Baez stellt sich ihrer Vergangenheit. Die legendäre Folksängerin und Aktivistin der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung zeigt sich in der herausragenden Doku „Joan Baez – I Am A Noise“ (ab Donnerstag im Kino) auch von ihrer dunklen Seite.
Bereits im zarten Alter von 19 Jahren wurde Joan Baez schlagartig berühmt und galt mit ihrem glockenhellen Sopran als „Queen of Folk“. Sie protegierte Bob Dylan, mit dem sie nach dem schmerzhaften Bruch ihrer Beziehung eine jahrzehntelange Hassliebe verband.
1963 marschierte sie mit Martin Luther King auf dem Friedensmarsch auf Washington. Ihre Interpretation von „We Shall Overcome“ wurde zur Hymne der friedlichen Protestkultur der Sechzigerjahre.
Für die Doku „I Am A Noise“ öffnete Baez den Regisseurinnen Karen O’Connor, Maeve O’Boyle und Miri Navasky den Zugang zu ihrem persönlichen Archiv. Vorsichtig, aber auch mit viel Witz, erzählt sie von psychischen Belastungen und Depressionen, die sie über all die Jahre begleiteten. Auch der Vorwurf des Missbrauchs durch den Vater steht im Raum.
Heute lebt Joan Baez im Alter von 82 Jahren in Kalifornien, sitzt in ihrer sonnigen Küche und gibt Interviews.
Ein Gespräch über Bob Dylan, Vergebung und Vögel.
KURIER: Frau Baez, die Doku über Ihr Leben beginnt mit einem Zitat von Gabriel García Márquez : „Jeder hat drei Leben. Das öffentliche, das private und das geheime...“ Haben Sie uns Ihr geheimes Leben erzählt?
Joan Baez: Ja, ich habe kein geheimes Leben mehr. Ich habe so ziemlich alles rausgelassen.
War es eine schwierige Entscheidung für Sie, die Archive zu öffnen und den Filmemacherinnen Ihr privates Material zu übergeben?
Mir war klar, dass es schwierig werden würde, wenn ich mich einmische. Hätte ich versucht, dies und jenes herauszuschneiden und einzufügen, wäre das niemals möglich gewesen. Es hätte ewig gedauert, an meiner eigenen Biografie zu basten. Insofern war es eine Erleichturng, alles diesen drei Frauen zu übergeben, vor allem Karen O’Connor. Wir sind seit Jahrzehnten befreundet, und ich vertraute ihr und kannte ihre Arbeit, und ich sagte: „Okay, hier sind die Schlüssel, mach es einfach.“ Und ich habe sie machen lassen. Ein paar Mal habe ich Einspruch erhoben, aber nicht sehr oft.
Sie sprechen über sehr intime Dinge, inklusive des Verdachts, dass Sie und Ihre Schwester vom Vater missbraucht wurden. War das von Anfang an geplant?
Also, ursprünglich war der Film als Doku meiner Abschiedstournee geplant. Nachdem wir das Archiv geöffnet hatten, nahm er eine andere Richtung an. Das war auch der Zeitpunkt, an dem ich wirklich aus dem Weg gehen musste. Denn plötzlich wurde mir klar, dass es keine Möglichkeit gab, nicht über diese Dinge zu sprechen, wenn ich wirklich ein ehrliches Vermächtnis hinterlassen wollte. Und dass ich über meine Traumata spreche, war eine wunderbare Befreiung für die Leute, die den Film gesehen haben. Er hat vielen Menschen die Tür geöffnet, um über ihre eigenen Probleme zu sprechen.
Sie sagen, dass es Ihnen leicht fiel, Ihrer Mutter zu vergeben, weil sie so zerbrechlich war. Konnten Sie auch Ihrem Vater verzeihen?
Oh, am Ende habe ich ihm alles verziehen. Es gibt diese schöne Redewendung: Man kann ein bisschen vergeben und sich ein bisschen besser fühlen. Man kann viel vergeben und sich viel besser fühlen. Oder man kann alles vergeben und frei sein.
Es gibt diesen Moment, an dem Sie über Bob Dylan sprechen und sich dann direkt zur Kamera drehen und sagen: „Hi, Bobby!“
Ich liebe diesen Moment.
Sind Sie noch mit ihm in irgendeiner Form in Kontakt?
Überhaupt nicht. Aber die gute Nachricht ist: Vor einigen Jahren malte ich ein Porträt von ihm als jungem Mann. Ich legte seine Musik dazu auf und begann zu weinen. Ich malte und weinte und hörte seine Musik und dachte über alles nach. Und als ich damit fertig war, war da kein bisschen Groll mehr in mir. Ich weiß, dass er ein Spinner ist und wahrscheinlich nie wieder mit ihm reden werde. Aber das spielt keine Rolle. Was er mir in diesen Jahren gegeben hat und was ich mit ihm teilen konnte, das ist einfach unermesslich.
Sie sprechen darüber, was für ein toller Songwriter Dylan ist. Von Ihren eigenen Songs ist kaum die Rede. Warum nicht?
Nun, zunächst einmal habe ich in den ersten zehn Jahren meiner Karriere keine Songs geschrieben. Ich habe erst angefangen, als jemand zu mir sagt: „Warum schreibst du keine Lieder?“ Und ich dachte: „Oh, okay!” (lacht herzlich). Und so habe ich angefangen, Songs zu schreiben. So einfach war das. Ich glaube nicht, dass ich so ein großartiger Songwriter bin wie Bob. Ich glaube, ich habe eine Menge guter Songs geschrieben, aber das war nicht das Hauptaugenmerk meiner Arbeit. Mein Schwerpunkt war die Stimme.
Sie marschierten im Alter von 22 Jahren mit von Martin Luther King am Friedensmarsch. Wie kam es dazu?
Ich weiß noch, als ich ihn das erste Mal sah. Ich war in der High School. Ich glaube, ich war 15 oder 16, und wir hatten eine große Schülerversammlung aus dem ganzen Land. Jedes Jahr gab es einen Redner, und dieses Jahr war es Dr. King. Ich hatte mich intensiv mit Gewaltlosigkeit beschäftigt. Und dann kam dieser junge Mann auf die Bühne. Er muss 25 oder sechs Jahre alt gewesen sein. Er sprach über den Montgomery-Busboykott. Und ich fing an zu weinen. Ich konnte es nicht kontrollierbar, weil er alles tat, woran ich glaubte. Und mir wurde klar, dass es jemanden gab, der Dinge in die Tat umsetzte und dass ich das auch konnte. Später kam es dann zum Kontakt.
Es gibt dieses Foto (siehe unten), wo Sie Hand in Hand mit dem Schriftsteller James Baldwin gehen ...
Ich liebe dieses Foto! James Baldwin war hinreißend. Sehr, sehr lustig, sehr zynisch, sehr wütend. Er war viel glücklicher, als er nach Frankreich zog, weil es hier in Amerika so schwierig war, als Schwarzer zu leben. Daran hat sich nicht viel geändert.
Sie wurden sehr jung sehr berühmt. War es schwierig als Frau in einer männlich dominierten Musikbranche?
Nun, ich bin ein Sonderfall, denn ich wurde mit 19 Jahren zum Star. Insofern musste ich mich in der Folkwelt nicht durchsetzen und hatte keine Schwierigkeiten. Aber später, als ich mit Dylan und seiner Band in England war, wurde mir klar: Ein Teil des Problems, warum ich nicht dazugehörte, bestand darin, dass es keine Frauen gab. Kürzlich aber habe ich aber etwas sehr Nettes erlebt. Ich habe bei einer Veranstaltung Musikpreise für „Hitmakers“ überreicht. Es waren viele Popsängerinnen dort, darunter St. Vincent, Boygenius und Billy Eilish. Fast alle Preisträgerinnen waren Frauen. Und ich sagte, wie glücklich ich sei, in einem Raum mit Menschen zu sitzen, die sich dafür einsetzen, dass die gläserne Decken durchbrochen wird. Und dass es schön sei, darunter auch ein paar Männer zu sehen. Das war witzig gemeint, denn es wimmelt nur so von jungen Frauen.
Joan Baez Joan Baez wurde 1941 in New York City geboren; sie hatte zwei Schwestern. Das Prinzip der Gewaltlosigkeit wurde den Kindern von den Eltern in die Wiege gelegt, ebenso wie ein Verständnis von sozialer Ungerechtigkeit
Folksängerin Joan Baez ist – abgesehen von Bob Dylan, den sie protegierte und mit dem sie bis zum Bruch eine enge Beziehung führte – die wichtigste Sängerin, die aus der US-Folkmusik-Bewegung der späten Fünfziger- und frühen Sechzigerjahre hervorging. Ihr bahnbrechendes Album: „Diamond and Rust“ (1975)
Politischer Aktivismus Joan Baez ist eine der wichtigsten Figuren des politischen Aktivismus: Sie marschierte mit Martin Luther King, protestierte gegen den Vietnamkrieg und engagierte sich immer wieder für unterdrückte Minderheiten
Sie sagen im Film, dass Ihre Lieblingsdekade die jetzige ist. Bleiben Sie dabei?
Ja. Wahrscheinlich dauert diese Dekade für mich nicht mehr allzu lange, weil ich alt werde. Aber ich habe eine Menge Sorgen hinter mir gelassen. Ich habe es satt, so zu tun, als ob ich immer gut aussehen würde. Das sind große Meilensteine, die man erreichst. (lacht) Ich möchte nicht wieder 18 sein und alles noch einmal durchmachen müssen. Ich finde es jetzt deutlich angenehmer. Aber natürlich muss man sein eigenes Älterwerden täglich akzeptieren. Ich werde kein Facelifting mehr machen lassen. Stattdessen muss ich in den verdammten Spiegel schauen und sagen: Das wars für heute. Es gibt kein Zurück. Für mich ist es dasselbe Problem, wie damit umzugehen, dass die Vögel verschwinden. Das Aussterben von Tieren ist für mich unerträglich. Das zu akzeptieren, ist ebenfalls eine tägliche Übung.
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