Die Sorge ist unbegründet, der Facettenreichtum da wie dort unerschöpflich. Nicholas Ofczarek holt im Burgtheater Nuancen aus Bernhards „Holzfällen“ (Textfassung: Tamara Metelka, Andreas Schett), die über die bekannten Lichter und Schatten dieses ambivalenten Erregungstextes, den überbordenden „Hass“ und die hochkomischen Momente dieses einstigen Skandalromans hinausgehen. Im selben Atemzug, in dem er unfassbar bernhardisch „hasst“, ist Ofczarek als Erzähler betroffen darüber, dass er die Einladung zu dieser schrecklichen Abendgesellschaft, von der er berichtet, angenommen hat. Und plötzlich wirkt dieser mächtige Mann nur halb so groß, ja, beinahe zart möchte man sagen, wie er da in seinem Ohrensessel sitzt ...
Tatsächlich sitzt Ofczarek auf einem ganz normalen Sessel, nur der von ihm dargestellte Erzähler thront im Ohrensessel, der immer wieder, einem Refrain gleich, beschworen wird. Von ihm aus beobachtet der Erzähler voll Verachtung die Abendgesellschaft bei dem Künstlerehepaar Auersberger, wo man auf das Eintreffen des Ehrengastes, eines berühmten Burgschauspielers wartet und zugleich einer Freundin gedenkt, sich umgebracht hat. Der Erzähler redet sich unterdessen in Rage über „das entsetzliche Wien“, die Falschheit, die Bigotterie, die Dummheit der Gesellschaft insgesamt und der Eheleute Auersberger im Besonderen.
Man muss sich gar nicht daran erinnern, dass dieser Text bei seinem Erscheinen 1984 einen literarischen Skandal auslöste, weil er zugleich ein Schlüsselroman über die Wiener Kulturschickeria war. Er wurde in Österreich polizeilich beschlagnahmt, Bernhard untersagte daraufhin die Auslieferung seiner Bücher nach Österreich. Wer sich aller darin erkannte, ist heute vielleicht nicht mehr relevant, genial ist „Holzfällen“ immer noch.
Nicholas Ofczarek und die Tiroler Musicbanda Franui bringen den Text gemeinsam auf die Bühne, und das bedeutet alles andere als eine Lesung mit Musik. Es ist ein perfektes Miteinander, ein Ineinander der Musik und dieses hochmusikalischen Textes, der mit seinen vielen Wiederholungen zur Vertonung wie geschaffen ist. Was für ein Text! Was für eine Musik! Was für ein Schauspieler! Es gibt zu dieser Vorstellung nur Superlativen, und zwar bis in die Details, etwa die grandiose Lichtgestaltung von Paul Grilj, die zusätzliches Drama auf die Bühne bringt.
Die Musikkompositionen und musikalischen Bearbeitungen stammen allesamt von dem bläserlastigen, auf Trauermusik und -märsche spezialisierten Ensemble Franui und sind ebenso facettenreich wie der Text und seine Darbietung. Zart bis dramatisch, dominant bis hintergründig. Gewiss schöpfen sie aus vielen Quellen, sind Interpretationen zahlreicher Komponisten von Mozart bis Bruckner. Der Sitznachbar vermeint, an einer Stelle Nirvana-Anklänge zu erkennen. Ist nicht nachzuprüfen, aber wer weiß. Franui gibt es seit den 1990er-Jahren in nahezu unveränderter Besetzung, die meisten Mitglieder waren also jung, als Nirvana groß waren.
Und diese Musik ist niemals bloß Begleitung oder gar Hintergrund. Nicholas Ofczareks Erzähler stimmt, mal polternd, mal klagend, in sie ein, spricht seinen Text manchmal fast rhythmisch dazu. Einer der schönsten Momente des Abends ist die in leicht näselndem Burgtheaterdeutsch vorgetragene Suada des Burgschauspielers über sein Burgschauspielerdasein. Samt maliziöser Feststellung, dass die Menschen durchaus Lieblingsburgschauspieler, aber niemals Lieblingsburgtheaterdirektoren hätten. Er, der berühmte Burgschauspieler, habe schon vieler dieser Burgtheaterdirektoren, die von irgendwelchen Ministern bestellt worden seien, kommen und gehen gesehen. Erst lobt man sie, kaum sind sie da, verdammt man sie, und bald darauf sind sie wieder weg.
Man vermeint, an dieser Stelle ein Lächeln auf dem Gesicht des Burgschauspielers Nicholas Ofczarek zu erkennen.
KURIER-Wertung: 5 von 5 Sternen