Hollywood rüttelt an seinen eigenen Traditionen. Derzeit muss angesichts der Corona-Pandemie eine goldene Regel gebrochen werden: Auch Filme, die noch nicht in den Kinos gelaufen sind, werden für die kommende Oscar-Wahl in Betracht gezogen.
Bisher hieß es strikt: Ohne Kinostart kein Oscar-Anwärter – und das ärgerte vor allem den ehrgeizigen Streaming-DienstNetflix. Doch nachdem in der jetzigen Situation alle Kinos geschlossen bleiben, können dort logischerweise auch kein Film gezeigt werden. Die neue Regelung soll allerdings nicht Schule machen, sondern nur für die kommende Oscar-Preisverleihung gelten.
Dass Hollywood seine eigene Geschichte umschreiben soll oder muss, wie derzeit mit den Oscar-Zulassungen, war und ist immer schon gut für starken Stoff – zumal in Hollywood selbst.
„Hollywood“ heißt denn auch wenig originell jene Netflix-Serie (Start: 1. Mai), die eine alternative Geschichte zur tatsächlichen Geschichte der amerikanischen Filmindustrie erfindet.
Die Prämisse der Serie, die kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1947 spielt, ist simpel: Was wäre, wenn Hollywood damals nicht rassistisch, sexistisch und schwulenfeindlich gewesen wäre? Was wäre, wenn nicht weiße Männer, sondern Frauen die Studios leiten würden? Wenn schwarze Autoren die Drehbücher schrieben? Wenn homosexuelle Personen offen ihre Sexualität ausleben könnten? Wenn schwarze oder asiatische Schauspielerinnen Hauptrollen in einem Mainstream-Film übernehmen würden?
Liebesbrief
Einen Liebesbrief an das goldene Zeitalter Hollywoods, nennt der hochkarätige TV-Produzent Ryan Murphy seine jüngste Miniserie „Hollywood“. Der 54-jährige gilt als Hit-Macher im Serienbereich und schloss vor nicht allzu langer Zeit einen 300-Millionen-Dollar-Mega-Deal für Netflix ab. Bis dato profilierte sich der „König des Streaming-Booms“ mit Erfolgen quer durch das Genre-Beet – von Mystery, Horror bis hin zu Comedy – mit Serien wie „American Horror Story“, „American Crime Story“, „Pose“ oder „Scream Queens“.
Murphys Interesse daran, die Geschichte Hollywoods umzuschreiben, findet sich schon in seiner Miniserie „Feud“, wo er die legendäre Feindschaft zwischen den Hollywood-Stars Bette Davis und Joan Crawford nicht bloß als „Zickenkrieg“ erzählt, sondern neue Aspekte hinzufügt. Spätestens seit „Feud“ liege ihm die verschüttete Geschichte Hollywoods am Herzen.
Vor allem drei Hollywood-Legenden hätten ihn immer besonders berührt, erzählte Murphy, der offen schwul lebt, in Interviews: Rock Hudson, der zum Star wurde, aber seine Homosexualität geheim halten musste; Anna May Wong, die als erster chinesisch-amerikanischer Filmstar in die Geschichte einging, aber trotzdem keine Hauptrollen bekam; und Hattie McDaniel, erste schwarze Oscar-Preisträgerin und berühmt für ihre stereotype Rolle als Scarlett O’Haras leicht dümmliches Kindermädchen in „Vom Winde verweht“.
Die Schicksale dieser drei Hollywood-Ikonen schimmert auch im Hintergrund von „Hollywood“ durch, das von einer Gruppe junger Menschen und deren Wunsch erzählt, in der Unterhaltungsindustrie Karriere zu machen.
Im Mittelpunkt steht ein junger, weißer Feschak namens Jack Castello (temperamentvoll: David Corenswet), dessen Karriere als Schauspieler nicht vom Fleck kommt. Zur Überbrückung heuert er bei einer Tankstelle an, wo die jungen Männer nicht nur Autos volltanken, sondern auch sonstiges Rundum-Service anbieten. Jack findet sich in der Rolle des Gigolo wieder und stellt sich in den Dienst (älterer) reicher Ladys. Codewort: Dreamland. Mithilfe einer Kundin schafft er es schließlich sogar zum Schauspielunterricht.
Rock Hudson
Unter seinen neuen Bekannten befinden sich ein schwuler, schwarzer Drehbuchautor, eine schwarze Schauspielerin und ein Regisseur mit asiatischen Wurzeln. Mit von der Partie: Ein schwuler Schauspielanfänger namens Roy Fitzgerald, der von seinem Agenten einen neuen Namen – Rock Hudson (!) – bekommt. Die diverse Gruppe möchte einen Film drehen, doch der Studioboss will nichts davon hören: Unmöglich, einen schwarzen Drehbuchautor oder gar eine schwarze Schauspielerin für die Hauptrolle zu engagieren.
Allerdings erleidet er bei einem Seitensprung einen Herzinfarkt – und seine resolute Ehefrau Avis Amberg übernimmt das Kommando.
Patti LuPone als exzentrische Avis gehört zu den witzigsten Erscheinungen innerhalb der eher blass-braven Besetzung. Ihre Karriere als Schauspielerin sei damals gescheitert, weil sie „zu jüdisch“ ausgesehen habe, erklärt sie Jack. Nun aber ist ihre Zeit zur Revanche gekommen.
„Hollywood“ strahlt in einem teuren Ausstattungsoutfit, dem man großes Budget und seine Liebe zum historischen Detail ansieht. Der farbenfrohe Fifties-Look glänzt makellos und aalglatt – wie auch die Geschichte allzu geschmiert auf Schiene läuft. Die Figuren überschlagen sich geradezu vor Nettigkeit und können vor lauter Veredlung kaum so etwas wie Charakterprofil entwickeln.
Außerdem trägt die Serie ihr progressives Anliegen derartig offen vor sich her, dass es schon an Selbstgefälligkeit grenzt. Trotzdem gibt auch höchst sehenswerte Momente: Wenn etwa Jim Parsons (aus „The Big Bang Theory“) als schwuler Agent Henry Willson den Schleiertanz der Salome aufführt, um seinen Schützling zu verführen, ist das höchste Unterhaltung. Die Darstellung von Rock Hudson als talentfreier Anfänger hingegen – grenzt an Rufmord.
Ein Fundament der Kinokultur wackelt: Das exklusive Zeitfenster für Filmvorführungen
Manche Schlachten entscheiden nicht die ineinander verbissenen Streitenden, sondern ein Dritter. Zuletzt war dieser Dritte in der Kultur unangenehm oft das Coronavirus.
So auch in der Kinokultur. Denn nicht nur führt die virusbedingte Schließzeit viele Kinos weltweit an den Rand des Ruins, sorgt sie für Verschiebungen bei den Blockbusterstarts und wirft einen Schatten über viele Monate an Kinoeinnahmen. Sondern dass die Kinos nun zu haben, hat auch eine Schlacht entschieden, in der zuletzt erbittert gerangelt wurde – und zwar nicht zugunsten der Kinos.
Diese hatten sich viele Monate und Jahre lang dagegen gewehrt, ihr vielleicht wichtigstes Argument zu verlieren: Dass nämlich Filme lange Zeit nur im Kino zu sehen sind, bevor sie ins Fernsehen oder ins Streaming kommen. Dieses exklusive Zeitfenster betrug mehrere Monate, wenn nicht länger.
Nun aber werden immer mehr Filme statt ins Kino gleich in die Streamingdienste durchgereicht. Das trifft die Kinos empfindlich. Und ob das nach Ende der Coronakrise wieder rückabgewickelt wird, ist fraglich.
Selbst, siehe oben, für die Oscarnominierung ist heuer kein Kinostart nötig.
Nun wehren sich die angeschlagenen Kinos: Die weltgrößte Kinokette AMC droht, die Universal Studios zu boykottieren, da diese den Film „Troll World Tour“ an den Kinos vorbei gestartet hatten. Und sie wollen das auch weiter so tun, wenn die Kinos wieder offen haben.
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