Henk Schiffmachers "Tattoo": Der Körper als Tagebuch
Henk Schiffmacher ist schwer erreichbar. Kein Zoom, kein Laptop, kein Facetime, kein Internet. Egal. Ich erreiche den Niederländer, Jahrgang 1952, trotzdem – und zwar am Festnetz. Er sitzt in seiner Wohnung in Amsterdam, wo er mit seiner Frau und seiner Katze gerade den Lockdown verbringt, ein Zustand, der ihn schon total nervt: Es gehen ihm das Reisen, das Entdecken und die Abende mit Bier und Freunden im Pub ab. „Das Tätowieren vermisse ich natürlich auch schmerzhaft“, sagt Henk Schiffmacher.
Der Grund für das Gespräch ist seine umfassende Sammlung, die er in den vergangenen 40 Jahren zusammengetragen hat. Schiffmacher ist nämlich ein – im positiven Sinn – Besessener, einer, der all sein Herzblut und Geld seiner zweiten große Liebe (an erster Stelle kommt immer noch seine Frau) gibt: Originalzeichnungen, Lithografien, Radierungen, Tätowierinstrumenten, Gemälden, Fotos, Postern, sonstigen Artefakten. Nachzublättern ist diese ausführliche Reise durch die Geschichte des Tätowierens im soeben bei Taschen veröffentlichten Bildband. Dieser Ziegel (5,56 kg, 440 Seiten) ist „vollgepackt mit fantastischem Shit aus der Geschichte des Tätowierens, den ich über 40 Jahre gesammelt habe. Vieles davon hat man nie zuvor gesehen. Das war eine echte Herzensangelegenheit“, bewirbt er sein eigenes Buch.
Henk Schiffmacher ist einer der alten Tattoo-Schule, ein schonungsloser Kritiker und Beobachter von Trends. Viele neue Tattoo-Motive seien ihm viel zu detailreich, zu kompliziert. Sie erfüllen den eigentlichen Zweck nicht mehr – die Kommunikation. „Es gibt zurzeit viel zu viele Tattoos, die nicht kommunizieren – vor allem, wenn du mal ein paar Schritte Abstand nimmst. Da kannst du doch gar nicht mehr erkennen. Zu viel Schwarz und zu viel Drama. Das finde ich nicht richtig. Mein Buch soll zeigen, dass mich vornehmlich simple Tätowierungen interessieren“, sagt der 68-Jährige.
Mainstream
Wenn es um neue Tattoo-Trends geht, redet sich Schiffmacher in einen Rausch. Er erzählt von Zeiten, in denen noch alles anders (auch besser) war. Waren einst nur die Härtesten unter der Sonne, Rocker, Häfnbrüder und auf den Arbeitsmarkt schwer Vermittelbare gepeckt, tragen mittlerweile Manager, Staatsanwältinnen und Politiker einen Anker am Oberarm oder ein Herz auf der Arschbacke. Musste man früher verreisen, um sich tätowieren lassen zu können, kann man das in Städten mittlerweile an jeder Ecke in der Mittagspause erledigen.
Schiffmacher selbst ist natürlich von oben bis unten tätowiert: 121 Tätowierungen zählt er derzeit auf seinem Körper. Seine Tattoos sind Erinnerung, an Reisen, an Begegnungen mit anderen Kulturen und Traditionen. „Sie sind ein Andenken an Freundschaften, an verrückte Abende mit Kollegen und Freunden, an denen man sich nach der einen oder anderen Flasche Whiskey gegenseitig zu tätowieren begann. Der Körper als Tagebuch.
Sammlung und Legende
Der 68-jährige Niederländer Henk Schiffmacher gilt als Aushängeschild der Tattoo-Szene. Sein Studio in Amsterdam ist legendär, er hat Lady Gaga und andere Stars gestochen und sich mit der Kulturgeschichte des Tätowierens beschäftigt. Seine umfangreiche Privatsammlung, die einen Bogen von der Südsee über Japan bis in die wilden Zwanziger-Jahre spannt, ist jetzt als Bildband erschienen.
„Tattoo. 1730s-1970s.
Henk Schiffmachers Private Collection“.
Taschen Verlag.
125 Euro
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