Diese Normalität im pandemischen Ausnahmezustand hat sich auch in den reibungslosen Abläufen der Berlinale eingespielt. Keine langen Schlangen vor den Kinosälen, disziplinierte Besucher auf Abstand, entspanntes Publikum mit Maske (meistens) über der Nase.
Man hat sich gewöhnt.
Daran, wie es sich allerdings angefühlt hat, als Corona noch kein Begriff war und man noch nicht wusste, welches Ausmaß die Pandemie annehmen, geschweige denn, wielange sie anhalten würde, erinnert die liebevolle österreichische Doku „Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien“ von Constantin Wulff, die im Forum der Berlinale ihre Premiere feierte.
„Es könnte Wochen, ja Monate dauern“, sagt die Präsidentin der Arbeiterkammer (AK) Renate Anderl im Zuge einer Pressekonferenz zu einer Journalistin, die Corona mit dem Ablaufdatum der Grippe vergleichen möchte. Heute wissen wir natürlich, dass es sich um Jahre handelt.
Welch starken Einbruch Corona den Abläufen der Wiener Arbeiterkammer, der gesetzlichen Interessensvertretung für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, bescherte, wird in Wulffs sorgfältigem Institutionsporträt – im Abspann wird dem großen US-Doku-Vorbild Frederick Wiseman gedankt – stark deutlich. Im Mikrokosmos lässt sich gut beobachten, was sich in unserer Gesellschaft als Ganzes abspielt.
Vor Ausbruch der Pandemie herrscht in der AK reger Kundenverkehr. Menschen unterschiedlicher Herkunft suchen Rechtsberatung und berichten Empörendes: Von unbezahlten Löhnen, verschärften Arbeitsbedingungen, Kündigungen per SMS oder während der Karenz. Nicht selten können die Berater lässig die Sprache wechseln und den Hilfesuchenden auf Serbisch oder Rumänisch antworten. Die Stimmung ist sympathisch, hilfsbereit und kommunikativ – vielleicht manchmal etwas zu sitzungsfreudig.
Mit dem Ausbruch der Pandemie aber lässt sich der Beginn der großen Vereinzelung beobachten. Entleerte Gänge, einsame Angestellte im Büro, Videokonferenzen.
Die Klienten verschwinden hinter Masken. Im Zuge von Corona haben sich die Arbeitsverhältnisse weiter zugespitzt. Eine junge Frau war beim heimischen Maskenskandal, bei dem chinesische in österreichische Masken umetikettiert wurde, live dabei und erzählt von Lohndumping, hohem Arbeitsdruck und Getränkeverbot.
Constantin Wulffs Blick auf die AK ist durchgehend wohlwollend. Dass es innerhalb der Institution vielleicht doch noch Luft nach oben gibt, was beispielsweise die Selbstrepräsentation nach außen angeht, klingt nur zart an – etwa, wenn das brave Werbefilmchen gezeigt wird, das die AK anlässlich ihrer 100-Jahre-Feier produzierte und das vor allem die Jugend ansprechen soll.
Wer aber die Jugend ansprechen will, der muss sich an Kurdwin Ayub halten.
Die im Irak geborene und in Österreich aufgewachsene Regisseurin präsentierte ihr beseeltes Spielfilmdebüt „Sonne“ in der renommierten Programmschiene „Encounters“ und bringt damit frischen Wind in die heimische Filmgeschichte.
Kurdwin Ayub, Jahrgang 1990, startete als Videokünstlerin und drehte anfangs ihre Filme oft von ihrem Bett aus. In ihrem famosen Reise-Home-Movie „Paradies! Paradies!“ trat sie mit ihrem Vater eine Reise in den Irak an und landete im Kampfgebiet der IS. In „Sonne“ stellt sie die Frage nach Identität und Heimat aus der Perspektive dreier Mädchen, die zum Spaß ein Burka-Musikvideo drehen und plötzlich in der muslimischen Community als „Stars“ herumgereicht werden.
Die Kurdin Yesmin trägt das Kopftuch aus Überzeugung, ihre Freundinnen Bella und Nati verwenden ihn nur als coolen Hauptschmuck für ihre Bühnenauftritte. Sinnigerweise intonieren sie „Losing My Religion“ von R.E.M. vor der Kamera – und bald schon stellen sich unvorhergesehene Entfremdungen ein. Bella und Nati lassen sich von zwei jungen, kurdischen Patrioten faszinieren, während Yesmin deren Macho-Gehabe auf die Nerven geht und ihr das Kopftuch zunehmend verleidet. Gleichzeitig hat sie zu Hause Stress mit ihren streitenden Eltern und dem kleinen Bruder.
Kurdwin Ayub erzählt ihre lebhafte, oft sehr witzige Coming-of-Age-Geschichte in allen Formaten jugendlicher Selbstbespiegelung – vom Tiktok-Clip bis zur Instagram-Story, denn zwischen Kopftuch und Trinkgelage, Gebet und Zigaretten ist das Handy nie weit.
Die nächste Gelegenheit, „Sonne“ zu sehen, bietet sich übrigens bei der Eröffnung der Diagonale.
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