Haus-Kolumne: "Irgendwann hatte ich mal weniger Sorgen"

Haus-Kolumne: "Irgendwann hatte ich mal weniger Sorgen"
Mit Tocotronic durch den Ausnahme-Alltag.

Corona. Ein Virus wirft den Alltag um. So könnte der Arbeitstitel eines Tagebuchs lauten, das jetzt vielleicht viele schreiben werden, um die Tage und Nächte in Quarantäne zu verarbeiten. Irgendwie halt. Denn die Einschnitte sind für viele drastisch und schmerzlich, vor allem für jene, die nun alleine zu Hause sitzen. Vermutung: Wer vorher schon einsam war, ist jetzt noch einsamer.

Kapitulation

Einige wesentliche Kalendereinträge habe ich bereits ersatzlos gestrichen. Dabei hätte man sich das Jahr schon ganz gut eingeteilt gehabt. Am ersten April-Wochenende mit Mama und Papa und Anhang nach Hamburg. Davor noch die bereits geplante Geburtstagsparty meiner Freundin. Alles abgesagt!

Und ob ich im Sommer mit dem Auto durch Italien fahren werde, wackelt aus heutiger Sicht gehörig – wie vieles andere auch. Die Festplatte des Lebens wird gerade neu formatiert. Egal, ob man dafür bereit ist oder nicht.

„Sag alles ab“, davon wussten Tocotronic schon ein Lied zu singen. Der Song passt unfreiwillig, aber gut zur allgegenwärtigen Corona-Krise. Die Texte der ehemaligen „Hamburger Schüler“ kommen einem im Moment in vielen Situationen in den Sinn. „Mach es nicht selbst“ (vom Album „Schall und Wahn“) möchte man etwa der Risikogruppe zusingen, wenn sie im Supermarkt vor einem an der Kassa zum Stehen kommt. Oder wenn einem plötzlich alles zu viel werden sollte, lässt es sich mit Tocotronic schunkelnd kapitulieren: „Kapitulation, ohohoh ...“

Ein Album ist in den vergangenen Tagen aber besonders in meinen Fokus gerückt. „Digital ist besser“. Das Debütalbum von Tocotronic feierte am 6. März nämlich seinen 25. Geburtstag. Die 18 (!) Songs haben an Rohheit und Dringlichkeit nichts verloren – eingespielt wurden sie live und in kürzester Zeit. Die immer ein bisschen verstimmte Gitarre ist oft bis zum Anschlag verzerrt, die Eröffnungsnummer „Freiburg“, „Meine Freundin und ihr Freund“ oder die Jugendzimmer-Protesthymne „Drüben auf dem Hügel“ erinnern an US-amerikanische Krawallmacher wie Hüsker Dü und Dinosaur Jr.

Enthusiasmus

Mit welcher entschlossenen Wurschtigkeit, Nonchalance und Rohheit Sänger und Gitarrist Dirk von Lowtzow, Bassist Jan Müller und Schlagzeuger Arne Zank in ihren Humana-Trainingsjacken zur Sache gingen, ist für die Band bis heute einmalig. Nach „Digital ist besser“ verlor man nämlich nach und nach an Räudigkeit.

Das Gitarrenspiel ist bis auf drei bis vier Akkorde reduziert. Keine nervigen Soli, keine blöden Angebereien. Von Lowtzow spielt sein schlampig gestimmtes Instrument mit dem Enthusiasmus eines Hobbygitarristen. Einfach, fast schon dilettantisch, aber auch mit viel Herzblut – und daher sehr sympathisch.

Mit „Digital ist besser“ werden auch einige der schönsten Texte ein Vierteljahrhundert alt. Dieser hier ist aktueller denn je: „Jeden Tag gehe ich ins Bad und wasche mich / Jeden Tag schütt’' ich mir kaltes Wasser ins Gesicht / Es ist klar, es geht nichts von heute auf morgen, doch irgendwann hatte ich mal weniger Sorgen. Zum Beispiel letztes Jahr im Sommer ...“

Der Autor hört (und putzt) sich zu Hause gerade durch sein Plattenregal.

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