„Das Himmelszelt“ ist vieles zugleich, darunter ein Gerichtssaalthriller und eine feministische Anklage, in erster Linie aber eine stark konstruierte Parabel nicht nur auf den Brexit, sondern alle Entscheidungen, die einem Volk überantwortet werden, ohne dass es die Spielregeln kennt.
Kirkwood hat ihr Stück im März 1759 angesiedelt – in einer Kleinstadt mit Gerichtsbarkeit. Damals zog der von Edmond Halley entdeckte Komet wieder übers Firmament. Und es herrschten, zumindest in Kirkwoods Zuspitzungen, mittelalterliche Zustände.
Sally Poppy wurde verurteilt, ein Kind ermordet zu haben. Der Pöbel will sie in der Sekunde hängen sehen. Doch die junge Frau behauptet, seit Kurzem schwanger zu sein. Sollte dies stimmen, wäre sie gerettet; auf sie würde dann die Deportation warten.
Der Richter lässt daher eine Matronenjury einsetzen. Zwölf Mütter, die sich ja mit den untrüglichen Zeichen der Schwangerschaft auskennen sollten, werden in einem schäbigen Raum über dem Gerichtssaal eingesperrt, bis sie in der Kälte – ohne Wasser, Brot und Licht – zu einem Ergebnis gekommen sind. Doch so einfach ist es nicht. Eine der Mütter kommt daher zur Erkenntnis, dass es schon seltsam sei: Über den Lauf des Kometen wisse man mehr als über die Beschaffenheit eines weiblichen Körpers.
Zudem werden bald Enthüllungen gemacht. Die eine oder andere Geschworene ist voreingenommen, handelt im Auftrag, verfolgt persönliche Motive oder ist unfruchtbar. Eigentlich hätten die Frauen das Unternehmen abbrechen müssen – aufgrund der Zusammensetzung. Doch sie fügen sich. Schließlich macht der Mob Druck: Die Frauen sind von Lärm geradezu umzingelt. Sorgenvoll blicken sie, während das trapezförmige Holzhaus (von Ausstatter Stefan Hageneier) viel zu oft rotiert, durch die großen Fenster nach draußen.
Was über all den Dialogen und Debatten völlig in Vergessenheit gerät, ist der Umstand, dass Sally bloß aufgrund von Indizien und der Aussage eines Mannes, der nicht Zeuge war, verurteilt wurde. Von einem Mann. Und weil die von einem Mann nominierten, in demokratiepolitischen Dingen unerfahrenen Frauen sich lange Zeit nicht einigen können, überlegen sie, einen Mann, einen Fachmann, beizuziehen.
Die Männer steigen natürlich schlecht aus in „Das Himmelszelt“. Sie sind herablassend, verlogen, käuflich. Zudem hat Lanik darauf verzichtet, die Stimme des Richters von oben erschallen zu lassen, als wäre sie jene von Gott. Diesen Part übernimmt Philipp Hauß als dauergeiles Kretin von einem Gerichtsdiener (leider kapiert man diese Degradierung nur, wenn man das Stück gelesen hat).
Und dass sich Frau nicht abhängig machen muss vom Mann, demonstriert Lanik mit einer Masturbationsszene, die das Burgtheaterpublikum noch vor ein paar Jahren entrüstet hätte. Als richtig degoutant wäre wohl auch der Versuch bezeichnet worden, aus der entblößten Brust von Marie-Luise Stockinger als aufmüpfige, görenhafte, ungehobelte Sally ein Kolostrum herauszupressen.
Doch die mehrere Volten schlagende Geschichte zieht in ihren Bann – und ein hervorragendes Frauenensemble vermag zu faszinieren. Manche der zwölf Geschworenen bleiben, auch weil sie nicht sehr viel Text haben, Staffage. Im Zentrum stehen unter anderem Barbara Petritsch als herrische Matrone, Stefanie Dvorak als verzweifelt Verstummte mit versteinerter Miene, Alexandra Henkel als bodenständige Pragmatikerin und Katharina Pichler als neidige Kleinbürgerin.
Sabine Haupt darf bei Lanik eine Wandlung durchmachen, die so nicht im Buche steht. Und als Kämpferin mit großem Herz wie feministischem Selbstvertrauen imponiert die Hebamme der Sophie von Kessel. Dass sie als einzige die Ärmel aufgekrempelt hat, ist ein Zeichen. Und dass Sally „Flugzeuge spielt“ ein anderes.
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