Goldene Palme geht an Justine Triet für "Amatomie eines Sturzes"
Zum zweiten Mal gewann eine französische Filmemacherin die Goldene Palme in Cannes. Justine Triet konnte für ihr aufwühlendes Gerichtssaaldrama „Anatomie eines Sturzes“ den höchsten Preis des weltwichtigsten Filmfestivals für sich gewinnen. „Es ist der intimste Film, den ich je gemacht hatte“, so die Regisseurin, sichtlich überwältigt, in ihrer Dankesrede. Erst vor zwei Jahren hatte die Französin Julia Ducournau die Goldene Palme für „Titane“ erhalten. Triet ist damit die dritte Frau – die erste war Jane Campion –, die in Cannes die Goldene Palme erhalten hat. Heuer befanden sich insgesamt sieben Regisseurinnen im Wettbewerb, für das französische Filmfestival eine Rekordzahl.
„Anatomie eines Sturzes“ erzählt die Geschichte einer schwierigen Ehe, deren tödlicher Ausgang im Gerichtssaal endet. Angeklagt wird die deutsche Schriftstellerin Sandra – kongenial verkörpert von Sandra Hüller – , deren Ehemann bei einem Sturz aus dem Fenster in der Nähe von Grenoble umkam.
War es ein Unfall – oder hat die Ehefrau doch mit einem Stoß nachgeholfen?
Vor den Ohren des kleinen Sohnes der Familie wird ein psychologisch komplexes Machtgefüge zwischen den beiden Ehepartnern rekonstruiert. Der Mann stand im Schatten seiner erfolgreichen Frau, grausame Konflikte bis hin zu Handgreiflichkeiten sind die Folge. Eine geheime Tonbandaufzeichnung dokumentiert die ehelichen Auseinandersetzungen und belastet die Frau schwer.
Justine Triet spitzt den Konflikt zu einem spannenden Gerichtssaalthriller zu, in dem nicht nur ein Mord, sondern auch das Scheitern einer Beziehung im Mittelpunkt steht. Sandra Hüller ist umwerfend in ihrer Rolle als deutsche Erfolgsautorin mit mangelnden Sprachkenntnissen vor einem französischen Gericht. Bis zum Schluss bleibt sie eine ambivalente Figur, deren Vielschichtigkeit Triet zum packenden Porträt verdichtet.
Doppelrolle
Überhaupt bewies Sandra Hüller, berühmt geworden mit „Toni Erdmann“, bei der Wahl ihrer Rollen ein goldenes Händchen. Gleich zweimal war sie in tollen Rollen in Cannes zu sehen: Neben Triets „Anatomie eines Sturzes“ spielte sie auch in Jonathan Glazers kühler Holocaust-Studie „The Zone of Interest“. Hüller verkörpert die Nazi-Ehefrau von Auschwitz-Lagerkommandant Rudolf Höß und bemüht sich um ein „normales“ Familienleben im Schatten des Vernichtungslagers.
Der britische Filmregisseur Jonathan Glazer war als aussichtsreicher Kandidat für die Goldene Palme gehandelt worden, musste sich aber mit dem Großen Preis der Jury begnügen.
Die österreichische Filmemacherin Jessica Hausner und ihr Radikal-Diät-Drama „Club Zero“ gingen gänzlich leer aus. Auch die internationale Kritik hatte auf Hausners formschöne, distanziert-ironische Gesellschaftssatire gespalten reagiert.
Den Preis der Jury erhielt dafür Regisseur Aki Kaurismäki. Der Kult-Finne wurde für seine melancholisch-nostalgische Comeback-Tragikomödie „Fallen Leaves“ ausgezeichnet.
Ähnlich wie Sandra Hüller war auch der Deutsche Wim Wenders im Doppelpack in Cannes erschienen. „Wim Wönderss“, wie die Franzosen gerne sagen, präsentierte nicht nur einen, sondern gleich zwei neue Filme.
In seiner einfallsreichen Doku „Anselm – Das Rauschen der Zeit“ über Anselm Kiefer nähert sich der 77-jährige Regisseur dem deutschen Großkünstler in 3-D an. Im Wettbewerb lief zudem Wenders’ neuer Spielfilm „Perfect Days“ und rührte mit den zartfühlenden Beobachtungen eines japanischen Kloputzers die Herzen.
Tokyo Toilet
Schauspiel-Veteran Koji Yakusho verkörpert darin einen einsamen Mann namens Hirayama, der hingebungsvoll für „Tokyo Toilet“ arbeitet. Auf dem Weg zur Arbeit im Auto legt er alte Kassetten ein und hört charismatische Popsongs von Otis Redding, Patti Smith und – in Anlehnung an den Filmtitel – Lou Reeds „Perfect Day“. Wenders beobachtet die Alltagsroutinen seines Protagonisten mit dokumentarischer Einfachheit, aber in lyrischen Bildern. Hirayama genießt die kleinen Schönheiten des Alltags: Das Rauschen des Windes, das Spiel der Sonne in den Blättern. Für sein hingebungsvolles Spiel in „Perfect Days“ erhielt Koji Yakusho den Preis als bester Hauptdarsteller.
Überraschend, aber ebenfalls hoch verdient wurde die Türkin Merve Dizdar mit einer Auszeichnung als beste Darstellerin belohnt: Sie spielte in Nuri Bilge Ceylans epischer Provinzstudie „About Dry Grasses“ eine kämpferische Frau inmitten von selbstmitleidigen Männern.
Mit der Preisvergabe gingen die 76. Filmfestspiele ins Finale. Es war ein gutes Jahr in Cannes. Das Weltkino zeigte seine besten Seiten und läutete eine aufregende neue Filmsaison ein.
Ähnlich sah das auch der zweifache Palmengewinner und Präsident der Jury, der Schwede Ruben Östlund. Die Preis-Entscheidungen seien nicht einfach gewesen: „Es war ein sehr, sehr starker Jahrgang.“
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