Giovanni di Lorenzo: „Moralisten sind nervend“

Giovanni di Lorenzo: „Moralisten sind nervend“
Der „Zeit“-Chefredakteur über soziale Medien und den Trend zum konstruktiven Journalismus.

KURIER: Herr di Lorenzo, ein Phänomen ist, dass Menschen nur mehr in ihren Blasen kommunizieren. Wie bewegen Sie, als „Zeit“-Chefredakteur, Bürger dazu, sich auch mit Meinungen anderer zu konfrontieren?

Giovanni di Lorenzo: Wir muten unseren Lesern genau das jede Woche aufs Neue zu: Wir konfrontieren sie mit Meinungen, die sie ärgern oder möglicherweise verstören. Wir verstehen uns als liberale Zeitung, natürlich nicht im parteipolitischen Sinne. Ein liberaler Standpunkt kann sich nur zwischen unterschiedlichen Polen herausbilden – und diese muss man kennenlernen.

Die aktuellen Themen sind oft sehr komplex und die einfachen Antworten stimmen in der Regel nie. Wir vertrauen stark darauf, dass sich der Leser eine eigene Meinung bilden kann und sind davon überzeugt, dass er dabei nicht von Journalisten betreut oder gar bevormundet werden muss.

Womit wir bei der Causa Claas Relotius sind. Der deutsche Journalist wurde mehrfach für seine „Spiegel“-Reportagen ausgezeichnet. Vor Weihnachten stellte sich heraus, dass er zahlreiche Reportagen gefälscht hatte. Ist das eine Zäsur für die deutschen Medien?

Eine medieninterne Debatte findet natürlich statt, auch bei der Zeit. Aber ich bin mir nicht sicher, ob der Fall eine große Wirkung auf die Leser des Spiegel oder auf andere Medien hat. Die meisten Leser haben Verständnis dafür, dass man auf jemanden, der mit großem Geschick und großer Energie betrügt, auch reinfallen kann. Wichtig ist, dass keine weiteren Fälle aus anderen Genres dazu kommen. Das wäre zum jetzigen Zeitpunkt eine Verheerung.

Ein neuer Ansatz ist der sogenannte konstruktive Journalismus. Ein gangbarer Weg für Sie?

Gerade Die Zeit wurde zum Gegenstand für wissenschaftliche Untersuchungen als Beispiel für konstruktiven Journalismus. Was versteht man unter dem Begriff? Wenn ein Skandal passiert, darf dieser auf keinen Fall kleingeredet werden. Jedes Problem muss in unseren Blättern auch zur Sprache kommen. Aber da, wo es geht, müssen auch Lösungsansätze sichtbar werden. Eine Lektüre, bei der man sich am Ende lieber die Decke über den Kopf ziehen möchte, stößt viele Leute ab.

Vor allem Frauen sind für viele politische Medien immer noch eine nur schwer erreichbare Zielgruppe. Sie fragen sich, was der Inhalt einer Zeitung mit ihrem Leben zu tun hat. Vieles sei negativ, hämisch und zynisch. Gerade der Zynismus ist extrem schwierig zu ertragen. Zyniker sind nicht neugierig, und sie haben recht: Neugier ist nun mal die Triebfeder eines jeden guten Journalisten. Doch Moralisten stören mich genauso wie Zyniker. Sie wollen die Welt in Schubladen einteilen, auch das ist furchtbar nervend. Zwischen Zynismus und Moralismus liegt jedoch ein riesiges Feld – und das müssen wir beackern!

Es wird viel über die Krise des Journalismus diskutiert. Resultiert diese aus der Digitalisierung, oder ist es auch eine inhaltliche Krise?

Es ist eine Mischung. Bei der Zeit geht es uns, ich traue es mich kaum zu sagen, gut, in jeder Hinsicht. Das sage ich mit großer Vorsicht, weil ich natürlich nicht weiß, wie lange dieser Trend anhält. Selbst der Anteil der jungen Leser hat sich bei uns seit Anfang der 70er-Jahre nicht verändert. Junge Leute lesen also nach wie vor!

Wir hatten eine schwere Krise Anfang des Millenniums. Damals war Onlinejournalismus jedoch überhaupt noch kein Thema. Es ist also kein Naturgesetz, dass Qualitätsmedien dem Untergang geweiht sind. Ich wehre mich gegen diese Leseart. Vielleicht aber haben die meisten Printmedien erst sehr spät entdeckt, dass man zu den Lesern ein intensives Verhältnis auf Augenhöhe aufbauen muss.

Die sozialen Medien nehmen an Bedeutung zu. Sollen Journalisten auf Twitter & Co. aktiv sein oder nicht?

Die Kollegen, die auf Twitter besonders stark wahrgenommen werden, entfalten ihre Wirkung selten, weil ihr Name so viel zählt. Sondern weil die Marke, für die sie stehen, so bekannt ist. Ihre Meinungsäußerungen in den sozialen Medien sind deshalb nur schwer von ihrem Medium zu trennen. Ich selbst gehöre zu der seltenen Spezies, die Twitter und Facebook nur passiv für die Arbeit nutzt. Ich bin schon so Tag und Nacht mit Kommunikation beschäftigt, wenn dann auch noch die sozialen Medien dazu kommen würden, wäre das nicht mehr zu bewältigen.

Es gibt Chefredakteure, die haben das Twittern zumindest stark eingeschränkt, weil es ihnen nichts gebracht hat. Wer twittert, erntet im pawlowschen Sinne Beschimpfung. Wo liegt der Erkenntnisgewinn? Das absichtliche Missverstehen des anderen dominiert in den sozialen Medien – daraus entsteht selten eine gute Debatte. Ich rate also zum wohldosierten und überlegten Einsatz. Ich glaube auch bei Twitter an die Vernunft der meisten Kollegen, mit denen ich zu tun habe.

Kommentare