Geschüttet, nicht verwässert: Hermann Nitschs posthumes Sechs-Tage-Spiel
Ein Hahnenschrei durchschneidet den konstanten Orchesterton, der am Samstagmorgen den Hof des Schlosses Prinzendorf einhüllt wie ein Nebelschleier. Ist das der Nitsch, der quasi aus dem Off den Startschuss gibt?
Alles scheint irgendwie bedeutsam in der dichten, geschärften Atmosphäre des Weinviertler Schlosses, es ist eine Anspannung zu spüren, auch bei den weiß gewandeten Akteurinnen und Akteuren.
Dass das Opus Magnum von Hermann Nitsch, das Sechs-Tage-Spiel des Orgien-Mysterien-Theaters, nach dem Tod des Künstlers aufgeführt wird, war wohl schon lange eine theoretische Option – doch wird es auch im realen Leben funktionieren?
Nun wird das Werk in Etappen realisiert, nach den ersten zwei Tagen an diesem Wochenende sind in den kommenden Jahren je zwei weitere Kapitel geplant.
Wasser und Wein
Zum Auftakt am Samstag bietet sich zunächst ein Schüttbild der etwas anderen Art: Regen hält doch einige der erwarteten 500 Gäste davon ab, anzureisen, zwei der riesigen Truhen voller Paradeiser – diese werden im weiteren Verlauf des Spiels unter lautem Brüllen zerstampft werden – müssen angebohrt werden, damit Wasser abfließt.
Nicht verwässert werden darf das Konzept, das Nitsch auf einer 700 Seiten starken Partitur festhielt. Bald entfaltet sich um einen vor weißer Leinwand aufgehängten Schweinekadaver die erste Aktion: Ein Mann, eine Frau werden mit Augenbinde auf eine Kreuztrage gespannt, mit Blut und Gedärmen übergossen.
Die Musik dazu steigert sich, mit massiven Akkorden und schneidenden Bläsertönen und mit dem Geläut der im Hof gebauten Glocken zu einem immensen Klanggebirge: Auch wenn man Bilder und Videos solcher Performances oft gesehen hat, richtig vorbereiten kann man sich auf deren Intensität nicht. Es wird im Lauf des Tages immer dichter werden, bis am Abend Gedärme unter Getöse aus dem Schloss in den Hof geworfen werden und sich die Akteurinnen und Akteure an die Grenzen der Verausgabung gebracht haben.
Dass die Musik beim Sechs-Tage-Spiel 2022 eine verstärkte Rolle spielen würde, hatte Rita Nitsch, die Witwe des Künstlers, bereits im Vorfeld betont; die Partitur unterscheidet sich stark von jener des ersten Spiels, das 1998 aufgeführt wurde.
Klangliche Wucht
Das Symphonieorchester, das in zwei Zelten im Schlosshof platziert ist, wird von Andrea Cusumano dirigiert, der seit 2004 die musikalische Leitung von Nitschs Aktionen innehatte. Am Samstag verläuft ein Teil des Spiels nahezu rein konzertant. Die Gabe Nitschs, Zeit zu verdichten, zu dehnen und buchstäblich einzufärben, tritt hervor. Doch natürlich ist das Ziel das Gesamtkunstwerk für alle Sinne: Dazu werden Geruchsmischungen in einem Rauchgefäß ums Schloss getragen.
Auch das Schwein verströmt seinen Odeur. Eine Besucherin, deren Sprache US-Herkunft verrät und die ein Kapperl mit der Aufschrift „Wet Paint“ (Nasse Farbe) trägt, hält sich die Nase zu.
Es ist einer der interessanten Aspekte des Post-Nitsch-Zeitalters: Seine Kunst wird seit Kurzem über die Mega-Galerie Pace einem internationalen Publikum serviert, das sich mit seinem Vokabular – stark im Katholisch-Sakralen verankert, mit Anklängen an Richard Wagner und archaische Kulte, aber auch an die Nachkriegs-Avantgarde – nicht in jener Weise vertraut machen konnte, wie es in Österreich möglich war. Und wenn das Sechs-Tage-Spiel den Nitsch-Novizen eine Sache buchstäblich unter die Nase reibt, dann ist es die Einsicht, dass das Schütten nasser Farbe nur ein kleiner Teilaspekt des Ganzen ist.
Kollektive Anstrengung
Doch für Deutungen ist inmitten der Schütt- und Wühlaktionen mit Trauben, Paradeisern und Gedärmen keine Zeit, es geht ums Jetzt.
Es fällt auf, dass die Aktion in einer Kunstszene, in der allerorts von „Kollektiven“ geredet wird, absolut zeitgemäß erscheint: Das System Nitsch war gewissermaßen immer schon ein solches, zahllose Rädchen greifen hier ineinander, vom Anfertigen der Geräte bis zur Ausführung ist alles Teamwork.
Dass manche Besucher die Akteurinnen und Akteure als „Aktionäre“ bezeichnen, ist ein lustiger Irrtum, verweist aber auf das durchaus sensible Verhältnis zwischen dem künstlerischen Kern und seiner Verwertung am Markt.
In Prinzendorf stehen Nitschs Pflegesohn Leonhard Kopp und der langjährige Assistent Frank Gassner im Zentrum der Aktionen: Sie dirigieren mit dem Trillerpfeiferl die Mitwirkenden, setzen selbst die wichtigsten symbolischen Handlungen – und schauen obendrein, dass die strenge Symmetrie und Ästhetik der Arrangements gewahrt bleibt. Denn natürlich ist alles auch für Kameras inszeniert, wenngleich das Fotografierverbot fürs Publikum streng kontrolliert wird.
Ab der Mitte des ersten Tages hin läuft dieses Werk auf Hochtouren, die körperliche Anstrengung beim Heben, Schütten, Binden ist greifbar, der Geruch macht flau im Magen, der Klang nähert sich der Explosion. Dann: Stopp, Stille. Eine Blaskapelle spielt einen lustigen Marsch, eine Prozession führt durch den Hof und auf die Felder. Zwischendurch ist Zeit für ein Glaserl und ein Paprikahendl. Lustig war der Nitsch, dieser Mann der Extreme, nämlich auch.
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