Sigmund Freud: "Der Hauptpatient, der bin ich selbst"
Mein Großvater sprach langsam, mit Überlegung und was er zu sagen hatte, gab einem zu denken. Ich kann mich nicht erinnern, ihn je ungehalten oder wütend gesehen zu haben. Er war immer freundlich, offen und aufrichtig“, erinnerte sich sein Enkel Ernest Freud als eine jener Personen, die ich noch über den „Vater der Psychoanalyse“ befragen konnte.
Sechsfacher Vater
Das ist die eine Seite des Sigmund Freud. Der Ehemann, sechsfache Vater und Großvater. In die Geschichte eingegangen ist dieser gemütliche alte Herr aber als ganz und gar ungemütlicher Forscher, als Seelenarzt, der von Wien aus die Welt revolutionierte.
Am besten lernt man Freud durch seine Patienten kennen. Der erste „Fall“, den ich mir ansah, betraf eine Wienerin namens Elisabeth Weiss. Freud beschreibt sie als hübsche, intelligente junge Frau, die ein glückliches Leben führte. Bis plötzlich ihre geliebte Schwester, während sie schwanger war, einem Herzversagen erlag. Der Fall ist deswegen so wichtig, weil er die Geburtsstunde der Psychoanalyse einläutet.
Freud bot sich „ein Bild des Schreckens“, als er Elisabeth 1892 kennenlernte: Die 24-Jährige hatte so starke Schmerzen in beiden Beinen, dass sie kaum gehen konnte. Nach eingehender Untersuchung kam Freud zu dem Schluss, dass kein organisches Leiden, sondern ein klarer Fall von Hysterie vorlag.
Freud ließ sich nun die Lebens- und Leidensgeschichte der Patientin erzählen. Dabei stellte sich heraus, dass die ersten Lähmungserscheinungen aufgetreten waren, als Elisabeth mit dem Mann ihrer Schwester einen Spaziergang unternahm. Freud ahnte, dass Elisabeth sich in ihren Schwager verliebt hatte.
Neigung zum Schwager
Als ihre Schwester kurz danach starb, war Elisabeths erster Gedanke: „Jetzt ist er frei, ich kann seine Frau werden.“
Für Freud war klar: „Dieses Mädchen hatte ihrem Schwager eine zärtliche Neigung geschenkt, gegen deren Aufnahme in ihr Bewusstsein sich ihr moralisches Wesen sträubte.“
Die Patientin sollte völlig gesund werden. Denn Freud hatte erkannt, dass das Bewusstmachen verdrängter Gedanken zur Heilung führen kann. Als unmittelbare Folge dieser erfreulichen Genesung wandte sich Freud jener Methode zu, die ihn weltberühmt machte: Dem „Freien Einfall“, der als Psychoanalyse in die Geschichte der Medizin eingehen sollte.
Berggasse 19
Freud war in jenen Tagen ein noch ziemlich unbekannter Dozent an der Universität Wien, der kurz davor neue Ordinationsräume bezogen hatte. Sie lagen in der Wiener Berggasse 19 und waren groß genug, um ihm, seiner Frau Martha und den Kindern auch als Wohnung zu dienen.
Freud war 1856 als Sohn eines jüdischen Wollhändlers in der mährischen Kleinstadt Freiberg (Přibor) geboren worden und mit drei Jahren nach Wien übersiedelt. „Dann kamen harte Jahre“, schrieb er, „ich glaube, sie waren nicht wert, sich etwas daraus zu merken.“ Interessant, dass der Mann, dem die Erinnerung an die Kindheit zu epochalen Erkenntnissen verhalf, der Erinnerung an die eigene Kindheit so wenig Bedeutung gab.
Mit Ausnahme seines letzten Jahres verbrachte Freud von nun an das ganze Leben in Wien, in jener Stadt, mit der ihn eine Art Hassliebe verband. Kurz nach Beendigung des Medizinstudiums lernte er im April 1882 auf einer Gesellschaft die um fünf Jahre jüngere Martha Bernays kennen. „Martha ist mein, das süße Mädchen, von dem alle mit Verehrung sprechen“, zeigte sich der 26-jährige Freud überglücklich. Zwei Jahre nach Vollendung seines Studiums fand er eine Anstellung als Sekundararzt an der psychiatrischen Abteilung des Allgemeinen Krankenhauses. Hier öffneten sich für ihn die ersten wissenschaftlichen Wege.
Kokain-Experimente
Er begann nun an sich selbst und an anderen Experimente mit Kokain durchzuführen und stellte fest, dass die damals für harmlos gehaltene Droge gegen Erschöpfung wirksam war und bei schmerzhaften Symptomen half. Doch der erster „Testpatient“, sein Arztkollege Ernst von Fleischl, starb an den Folgen der Kokainbehandlung.
So leichtfertig Freud mit der „Wunderdroge“ experimentiert hatte, sollten die Versuche für die Entwicklung der Psychiatrie große Bedeutung erlangen. Denn die Idee, das psychische Verhalten des Menschen beeinflussen zu können, ließ ihn nicht mehr los. Und wenn dies medikamentös nicht zu realisieren war, müssten eben andere Möglichkeiten gefunden werden.
In den folgenden Jahren begann er sich mit der Hypnose auseinanderzusetzen. Er brachte seine Patienten dazu, in hypnotischer Trance über ihre Vergangenheit zu sprechen. Die Hypnose sollte sich als weitere Vorstufe jener Behandlungsmethode erweisen, die ihm Weltgeltung verschaffte: der Psychoanalyse. Erst sie sollte dann den vollen Zugang zum Unbewussten des Patienten ermöglichen.
Georg Markus, Sigmund Freud, Der Mensch und Arzt. Seine Fälle und sein Leben, Biografie mit einem Vorwort von Alfred Pritz, Langen Müller Verlag 24 Euro
Die eigene Psyche
Der erste Schritt auf dem Wege zur Erforschung des Unbewussten war Freuds Eindringen in seine eigene psychische Situation, ein Vorgang, den er „Selbstanalyse“ nannte. „Der Hauptpatient, der mich beschäftigt, bin ich selbst“, sagte er. Tatsächlich strömten auf diese Weise verdrängte Kindheitserinnerungen auf ihn ein – das ging so weit, dass sogar seine vergessen geglaubten tschechischen Sprachkenntnisse wiederkehrten.
In der Selbstanalyse machte Freud die wohl bedeutsamste seiner Entdeckungen: Dass Kindheitserinnerungen die zentrale Rolle in der Behandlung psychischer Erkrankungen spielen. Von da an begann er, die Erzählungen seiner Patienten auf ihre ersten Jahre zu lenken.
So revolutionär Freud in seiner Arbeit war, so konservativ lebte er. Für Neuerungen wie Auto, Telefon und Schreibmaschine konnte er sich lange nicht erwärmen, doch der Einzug in die Berggasse im Jahr 1891 brachte eine gewaltige Veränderung der persönlichen Lebensverhältnisse. Sigmund Freud zählte jetzt aufgrund der zusehends besser gehenden Ordination zum gehobenen Bürgertum.
Schweres Schicksal
Indes sollte das Schicksal innerhalb kürzester Zeit mehrmals grausam zuschlagen. Der Arzt verlor eine Tochter und ein Enkelkind und erfuhr fast gleichzeitig, dass er Kieferkrebs hatte.
Wien, sagte Freud einmal, sei der Ort, „über den man sich zu Tod ärgert und wo man trotzdem sterben will“. Letzteres war ihm nicht vergönnt, wurde er doch im Alter von 82 Jahren von den Nationalsozialisten aus dieser Stadt vertrieben.
Der letzte Geburtstag
Am 6. Mai 1939 feierte Sigmund Freud in seinem Exil, im Londoner Stadtteil Maresfield Gardens, seinen letzten, den 83. Geburtstag. Er starb kurz danach, am 23. September 1939.
Die wahre Größe des Mannes, dessen Erkenntnisse die Welt veränderten, sollte der Menschheit erst nach seinem Tod bewusst werden.
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