Wird die Psychoanalyse nach wie vor so angewandt wie zu Freuds Zeiten: Der Patient lässt seinen Gedanken freien Lauf, während der Therapeut zuhört?
Dass der Analytiker schweigt, gehört zu den Märchen. Der Patient führt das Gespräch, der Analytiker hört zu, das heißt nicht, dass er schweigt. Freud selbst war ja sehr gesprächig. Der Patient geht in eine Richtung und der Analytiker begleitet ihn.
Kann man sagen, wie groß die Erfolgsquote in der Psychoanalyse ist?
Es gibt viele Studien, sie ergeben eine positive Bilanz. Sie weisen nach, dass die psychoanalytische Behandlung für viele Patienten sehr hilfreich ist. Grob gesagt für 80 Prozent. Darin sind alle Formen der Psychoanalyse eingeschlossen.
Wie wurden seelische Probleme in der Zeit vor Freud behandelt?
Das reicht bis an den Beginn der Menschheitsgeschichte zurück. Durch Schamanen, im Rahmen von religiösen Übungen. Am Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Hypnose erfunden. Auch Freud hat sie anfangs angewandt. Das hypnotische Element spielt in allen Psychoanalysen heute noch eine Rolle.
Sind Begriffe wie Kindheit, Sexualität, Traum, Unbewusstes immer noch so wichtig wie von Freud angenommen?
Das mit dem Sex muss ich korrigieren. Freud hat vom Lustprinzip gesprochen, nicht nur vom Sex. Lust ist viel umfassender. Dazu gehört auch, wenn sie etwas Feines essen, wenn Sie etwas ausüben, was Spaß macht, Sport zum Beispiel, da erleben sie auch Lust.
Aber die Sexualität kommt bei Freud vor.
Er hat entdeckt, dass die Sexualität schon bei Kindern eine große Rolle spielt, aber das wird oft damit verwechselt, dass man sagt, er war ein Pansexualist (ein Mensch mit verschiedenen sexuellen Orientierungen, Anm.). Das war er nicht. Das wurde in diese Richtung gedreht, auch, um ihn zu diskreditieren. Er hat gesagt, hier ist das Lustprinzip und hier ist das Todesprinzip, aus diesen Prinzipien konstituiert sich unser menschliches Dasein.
Was meint Freud damit, wenn er sagt: „Der Hauptpatient, der bin ich selbst“?
Er hat eine intensive Selbstbeobachtung durchgeführt und das war sehr wichtig. Das sinnvolle Erbe davon ist, dass heute jeder Analytiker selbst eine solche Behandlung durchmachen muss, um sich kennenzulernen, dass er sich nicht auf andere Menschen projiziert.
Wenn Freud selbst Patient war, welche Leiden hatte er?
Er hatte eine Reihe von psychosomatischen Beschwerden sowie auch Todesängste, er war mit seinen Schülern nicht sehr tolerant, hat sich mit vielen von ihnen überworfen. Er war selbst ein bissel neurotisch – wenn man so sagen darf.
Kaum ein Wissenschafter ist weltweit so populär wie Freud. Inwieweit spielt da seine charismatische Persönlichkeit eine Rolle?
Freud hatte nicht nur die Möglichkeit, Neues zu entdecken, er hatte auch die Begabung dieses Neue in eine besondere literarische Form zu gießen, sodass er ein umfangreiches wissenschaftliches, aber auch literarisch wertvolles Werk hinterließ.
Freud ist seit 80 Jahren tot. Geht seine Bedeutung zurück?
Im Gegenteil, das Interesse an Freud und seinem Werk nimmt weltweit zu, nicht zuletzt weil seine Philosophie auch dem 21. Jahrhundert entspricht. Das gilt nicht nur in den USA und in Europa, sondern in allen Teilen der Welt, insbesondere auch in China.Interview: georg markus
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