Gelungene Adaption: "Anna Karenina" in Reichenau

Gelungene Adaption: "Anna Karenina" in Reichenau
Kritik: Mit der Dramatisierung von Leo Tolstois "Anna Karenina" beweisen die Festspiele Reichenau wieder ihre Kompetenz in Sachen russischer Literatur.

Tschechow, Gorki oder Turgenjew – all diese Autoren und ihre Werke sind in den vergangenen Jahren an der Rax heimisch geworden und wurden von den Festspielen Reichenau meist sehr erfolgreich auf die Bühne gebracht.

Aber Leo Tolstois Romanepos "Anna Karenina"? Lässt sich dieser (mehrfach verfilmte) Stoff wirklich in ein plausibles Theaterstück verwandeln? Ja. Denn auch Nicolaus Hagg hat für Reichenau eine sehr kluge, straffe, auf das Wesentliche konzentrierte Bühnenversion geschaffen, deren Fokus ganz auf die Dreiecksgeschichte zwischen Anna, ihrem Mann Karenin und ihrer großen Liebe Wronsky gerichtet ist. Für Wronsky verlässt Anna den Gatten. Auch um den Preis, dass sie ihren Sohn nie mehr sehen darf. Doch die große, von der Gesellschaft geächtete Liebe hält nicht. Anna zerbricht an ihrer Eifersucht und wirft sich vor einen Zug. Wronsky zieht freiwillig in einen sinnlosen Krieg, um den Tod zu finden.

Schlaglichter

Soweit die (bekannte) Handlung, die Hagg schlaglichtartig erzählt. In kurzen Szenen skizziert er das Umfeld der Karenina, zeigt er die Begegnungen der Liebenden, wechselt er virtuos die Schauplätze und Stimmungen. Eine gelungene Adaption, zumal Hagg nicht wertet. Seine Sympathie gehört hier weder Anna, noch Wronsky, noch Karenin.

Eine Haltung, die auch Regisseur Hermann Beil einnimmt. Er vertraut in Peter Loidolts Einheitsbühnenbild den Qualitäten seiner Darsteller. Einige akustische Einspielungen (Stimmen, Musik), drei Bänke, eine Tür – mehr braucht es im Neuen Spielraum nicht, um das Liebesdrama schlüssig ablaufen zu lassen. Dass dabei auch der Humor nicht zu kurz kommt, liegt an den liebevoll gezeichneten und toll gespielten Nebenfiguren.

So gibt Dirk Nocker einen köstlichen, notorisch dem Genuss verpflichteten Stiwa. So findet Emese Fay als dessen Frau Dolly zu hoher Präsenz. So sind Tobias Voigt und die exzellente Johanna Arrouas als Lewin und Kitty ein zuletzt glückliches Liebespaar. Dass Marianne Nentwich als Übermutter und Fürstin brilliert, versteht sich. Dass Therese Affolter als herrlich penetrant-bigotte Gräfin ihre Szenen schön ausspielt, ist logisch. Raphael von Bargen als Prototyp eines abgetakelten Offiziers fügt sich gut ein; als Annas Sohn alternieren Julius Hagg und Fanny Altenburger.

Dreiecksdrama

Das Rundherum passt also, bildet einen Rahmen für mehr oder minder große Gefühle. Genau auf diese setzt Joseph Lorenz als Graf Wronsky. Wie er sich von einem dandyhaften Lebemann in einen wahrhaft Liebenden wandelt, ist Weltklasse. Am stärksten aber ist Lorenz in der Schlussszene, wenn er (dem Wahnsinn nahe) freiwillig in seinen Untergang geht. Intensiv.

Als Karenin überzeugt Miguel Herz-Kestranek. Dieser gibt einen verknöcherten, um seinen "Besitz" und seine Ehre kämpfenden Technokraten der Macht, der Gefühle nur in seltenen Augenblicken zulässt. Herz-Kestranek liefert ein tolles Porträt eines zutiefst vereinsamten Misanthropen ab.

Und Anna? Julia Stemberger changiert zwischen Liebe und Hysterie, zwischen Divenhaftigkeit und Wahnsinn. Diese Anna muss man nicht lieben. Und auch das ist eine große Kunst.

Fazit: Großes Kino, große Emotionen

Werk Tolstois Roman "Anna Karenina" (1878) zählt zum Kanon der Weltliteratur und wurde oftmals bearbeitet.

Fassung Nicolaus Hagg konzentriert sich ganz auf das Dreiecksdrama. Klug gestrafft.

Regie Hermann Beil verlässt sich auf seine Darsteller.

Spiel Joseph Lorenz und Miguel Herz-Kestranek sind ebenbürtige, exzellente Gegner.

Julia Stemberger zeichnet eine Anna voller Widersprüche.

KURIER-Wertung: **** von *****

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