Einblicke in das Schattenreich der Erschöpfung

Einblicke in das Schattenreich der Erschöpfung
Fotograf Brent Stirton zeigt Menschen in Österreich, die an der Schwächeerkrankung ME/CFS leiden. Sie bleiben zu oft unsichtbar – und unverstanden

Mila Hermisson lebt seit vier Jahren im Dunklen. Buchstäblich. Sogar gewöhnliches Licht führt bei der heute 21-Jährigen, die 2018 an der Infektion mit einem bis heute unbekannten Virus erkrankte, zu Überanstrengung.

Hermisson ist schwer von der Multisystemerkrankung „Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue Syndrom“ kurz ME/CFS, betroffen. Und das Leben im Schatten bringt nicht nur Leid für sie selbst und ihre Familie mit sich, sondern per Definition auch: Unsichtbarkeit.

„Sehr oft sind diese Menschen allein, ihr Leben ist ein winziges Universum“, sagt Brent Stirton. „Und zugleich ist die Krankheit nichts, was man mit einem Magnetresonanz-Scan oder einem Mikroskop erfassen kann. Manchmal kommt zum Leid daher noch der Vorwurf , etwas vorzutäuschen. Das ist vernichtend für die Patienten.“

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Etwa einmal im Monat trifft Jan seine Freunde im gemeinsamen Stammlokal. “Ich brauche es, zumindest kurz rauszukommen und Alltag zu erleben”, sagt Jan. Auch wenn er danach mehr und stärkere Symptome hat. Die Isolation ist trotzdem das Schlimmste. 

Manchmal kocht die Wut in Jan hoch. Wut, weil so wenige ME/CFS ernst nehmen. Weil nicht intensiver daran geforscht wird. Weil kaum jemand aufschreit, obwohl die Situation von Betroffenen so prekär ist. 

Aber es hilft nichts. Jan versucht, das Beste daraus zu machen. Im Herbst will er sein unterbrochenes Psychologiestudium wieder aufnehmen und zumindest ein paar Vorlesungen von zuhause aus machen. Doch seine Universität hat keine Konzepte für barrierefreie Lehre, die ihm weiterhelfen. Präsenz sei vorgesehen, wird ihm erklärt. Er könne nur den Vortragenden einzeln schreiben und um Sonderlösungen bitten. Eine zusätzliche Belastung. Jan probiert es trotzdem. “Ich weiß nicht, ob es gescheit ist, aber ich brauche das, um nicht durchzudrehen”, sagt er.

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“Es ist so frustrierend”, sagt Jan. Seine Mutter ist Ärztin. Sie vermutet bald, was mit ihrem Sohn los ist. So erhält Jan schneller eine Diagnose und die bestmögliche Behandlung als die meisten. Die wenigen Ärzte mit ME/CFS-Expertise in Österreich sind fast alle Privatärzte – die Familie kann sich das, anders als viele andere, leisten. 

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Aber Jan verliert trotzdem fast alles – ME/CFS zerstört Leben, egal wie privilegiert man ist. 

Jan zieht zurück zu seiner Mutter. Den Alltag alleine bewältigen ist unmöglich. In seinem Zimmer stehen viele seiner Sachbücher, die er heute nicht mehr lesen kann – und seine Instrumente und CDs, die er nicht mehr nutzt. Die meiste Zeit liegt Jan im Bett. Wenn seine Mutter nach Hause kommt, verbringen sie den Abend mit Gesprächen. An guten Tagen kann Jan zur Apotheke ums Eck gehen. 

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In der Wohnung von Jan sind die Rollläden bei allen Fenstern heruntergezogen – er ist lichtempfindlich. Als eine Lampe für eine bessere Beleuchtung eingeschaltet wird, zuckt er zusammen. In der Stunde, die der Fototermin dauert, ist das der einzige Moment, in dem man ihm anmerkt, dass etwas nicht stimmt. 

 

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Jan Equiluz musste seine Leidenschaft aufgeben. Er hat Trompete und Psychologie studiert, als er krank wurde. Er wollte Berufsmusiker werden. Er war auf einem guten Weg dorthin. Aber eine Corona-Infektion, die zu ME/CFS geführt hat, veränderte alles. Selbst Musik hören ist für Jan heute viel zu belastend, geschweige denn ein Instrument zu spielen. Jan musste das Trompetestudium abbrechen und später auch das Psychologiestudium pausieren. 

Unter der Linse

Stirton, ein vielfach preisgekrönter Fotograf, richtete also kein Mikroskop, sondern seine Kamera auf Hermisson und neun andere Patienten mit ME/CFS – der Auftrag dazu kam von der in Wien ansässigen „WE & ME“ Foundation, die sich um Bewusstseinsbildung und stärkere Erforschung der Erkrankung bemüht (siehe Artikel rechts).

Insgesamt sind rund 80.000 Personen in Österreich von schwerem ME/CFS betroffen – manche, aber längst nicht alle, infolge einer Covid-Infektion. „Wenn man das weltweit hochrechnet, kommt man auf Millionen Betroffene“, sagt der gebürtige Südafrikaner, der eigentlich mit Reportagen über Wilderei in afrikanischen Ländern bekannt wurde.

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„Ich habe als Reaktion auf Covid für das National Geographic Magazine mehrere Reportagen über den Handel mit dem Fleisch wild lebender Tiere gemacht und mir angeschaut, wie sich Krankheiten von Tieren auf Menschen übertragen“, erzählt Stirton. „Es ist kein Geheimnis, dass die nächste Pandemie gleich an der Ecke stehen könnte. Laut Vorhersagen ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der Auslöser eine Übertragung von Tier auf Mensch sein wird, beschleunigt durch Massentierhaltung“, sagt er. „Wenn ME/CFS ein Langzeitsymptom dieser Situation ist, dachte ich, dass eine Reportage dazu eigentlich eine natürliche Verlängerung meiner bisherigen Arbeit wäre.“

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Anders als bei Erkundungen in den Weiten Afrikas hatte Stirton es bei seinen Aufnahmen, die in einem Zeitraum von zehn Tagen in Österreich mit vorab ausgewählten Freiwilligen entstanden, jedoch mit einer extrem eingegrenzten Welt zu tun.

Der Fotograf musste nicht nur Rücksicht auf die Privatsphäre der Abgebildeten und ihre individuelle Bereitschaft, sich zu zeigen, nehmen: Oft waren es nur kleine Zeitfenster, in denen eine Begegnung mit den Betroffenen überhaupt möglich war.

„Ich versuchte, mir bewusst zu machen, dass diese Leute die wenige Energie, die sie noch haben, teilweise darauf verwendeten, mich dabei zu haben“ , erzählt der Fotograf. „Schon meine Gegenwart birgt das Risiko eines Rückfalls, es kann ein Monat brauchen, sich davon zu erholen. Und ich versuchte, einfach Bilder zu machen, die erklären, warum uns diese Sache beschäftigen sollte.“

Fürsorge im Fokus

Am Ende, sagt Stirton, fokussierte er besonders auf das Verhältnis zwischen den Patientinnen und Patienten und jenen Personen, die sich direkt um sie kümmern. Mit den englischen Worten Confinement and Compassion – etwa „Eingeschlossensein und Mitgefühl“ sei die Geschichte, die er erzählen wolle, am besten umrissen, so Stirton.

Da ist etwa die ehemalige Lehrerin Kornelia Sphan aus Niederösterreich, die nach einer Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus und einer Covid-Erkrankung seit 2022 oft „das Gefühl hat, sich aufzulösen“, wie sie sagt. Ihre Schwester, eine Ärztin, kümmert sich jedoch liebevoll um sie, ihre alte Leidenschaft, die Malerei, ist eine Stütze, auch wenn die Erkrankung die Betätigung schwer macht.

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Ein anderer Fall ist jener des ehemaligen Betriebsleiters Hannes D. aus Oberösterreich, der 2021 nach einer Covid-Infektion erkrankte – und sich, um bei der Hochzeit seiner Tochter dabei sein zu können, dem Risiko einer Überlastung aussetzte.

„In vielen Fällen verlieren nicht nur die von der Krankheit Betroffenen ihren Job – auch diejenigen, die sie pflegen, müssen ihr Leben radikal ändern, oft Arbeitszeiten reduzieren oder andere Jobs annehmen“, weiß Stirton. Die Idee, dass jemand das Erschöpfungssyndrom vortäuschen könne, sei „haarsträubend“, sagt er.

Journalistische Arbeit sei zur Aufklärung essenziell, insistiert Stirton – wobei neben klassischer Pressefotografie heute Auftragsarbeiten und Wettbewerbe wichtige Stützen seiner Arbeit geworden sind. „Als Resultat dieses Projekts möchte ich vielleicht die Situation in Amerika und Afrika ansehen“, sagt er. „Wenn man in eine solche Situation gerät, braucht man viel Unterstützung. Und diese Dinge sind in Gegenden, wo Menschen jeden Tag ums Überleben ringen, noch rarer.“

Brent Stirtons Fotos von ME/CFS-Betroffenen werden im Rahmen der Kunstmesse „Art & Antique“ (7.  – 11. 11., Hofburg Wien) erstmals ausgestellt. 2025 werden sie beim Fotofestival Baden zu sehen sein. 

Hinter der Aktion steht die „WE & ME“-Stiftung, die von der Familie Ströck, die selbst zwei von der Krankheit betroffene Söhne hat, ins Leben gerufen wurde. Sie sammelt u. a. Spenden für die Forschung – bei der „Art & Antique“ verlosen    Kunsthändler wertvolle Werke, Lose kosten 20 Euro. Info: www.weandmecfs.org

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