Wie lange würde es heute wohl brauchen, um nach Einsetzen des schrillen Läutens die ersten Stimmbänder vibrieren zu lassen? Wieder ein paar Sekunden kürzer? Gestern waren es Zehn, bis dieses herrliche Crescendo seinen Lauf nahm. Von „Ruhe!“ über „Kann sich der Typ keinen Schlaganfall einfangen“ bis „Ich bring ihn um!“ war wieder alles dabei. Rudolf Pschemisl hätte sein magisches kleines Monster also gar nicht erst nach boshaften fünf, sondern bereits einer lächerlichen Minute abdrehen können, denn mittlerweile weckte sich der Wohnblock ohnedies von selbst. „Pschesischel! Ich bitte Sie! Es ist Wochenende!“, „Das bringt nichts Josef, der Psemischl hört dich nicht!“
„Solche Deppen. 23, 24, ...!“
Ja, direkt einen Spaß hatte Rudi Pschemisl die letzten Tage. Nicht einmal seinen Namen konnten sich die Blindgänger merken, von richtig Schreiben ganz zu schweigen: Přemysl. R mit Hatschek also, ein stimmhaftes SCH. „Pschemisl, nicht Psemischl. Oder bin ich ein K&K, ein kaiserlicher Köter!“ Ja Köter, denn Psem wäre im Polnischen der Hund und Ischl Europäische Kulturhauptstadt 2024. Ischgl hingegen das Sodom und Gomorra des Jahres 2020.
Logisch war Rudi Pschemisl also auch an diesem Morgen höchst gespannt: „Was wird es heut wohl werden. Pschissl? Schüssel? Psemschl? 25, 26, 27...!“ Gutes Leben.
Bei „45!“ wagte er ein erstes unsicheres Anheben seiner Ohrenschützer: Vielleicht hört er den Wecker ja schon chronisch, sprich ohne ihn überhaupt aktiviert zu haben. Doch nein. Alles bestens. Lauter geht es nicht. Möglicherweise hatten sich die Damen- und Herrschaften gestern ja noch ins Koma gesoffen. Also Geduld, Geduld. Wird schon werden. Wie gesagt, die Vorhersehbarkeit.
Pischinger-Ecken, Krachmandeln, Kokoskuppeln, gleich geht’s los.
Bei „81!“ wurde Rudolf Psemischl bewusst, wie verdammt lang so eine lächerliche Minute sein kann, ohne sich dafür extra in Rückenlage unter eine Büffelherde begeben zu müssen, oder in Bauchlage mit kaputtem Fallschirm über das Wiener Becken. Nach Minute 2 stand er auf, schob die Gehörschützer ein Stück nach hinten, ging in seinem Schlafzimmer hin und her, angespannt. Irgendetwas stimmt hier nicht? Keine einzige Regung war zu hören, keine Schreierei im Innenhof, kein Brüllen unter ihm, kein Klopfen über ihm. Der Riss in seiner Decke unbewegt, sein Jangtsekiang der Neusiedlersee.
Um 5:33 beendete er den Höllenlärm seines Weckers, öffnete zaghaft die Vorhänge, sah sich um. Von Balkon zu Balkon. Nichts. Keine Menschenseele, nur diese Stille, genauso wie sie Rudi Pschemisl sonst so schätzt. Sah hinab in den Hof, schob zu diesem Zweck seinen Kopf ein Stück aus dem Fenster hinaus, und ruckzuck wieder zurück, so schnell, nur noch das Davongleiten seiner Gehörschützer konnte er spüren, den dumpfen Aufprall auf dem Asphalt des Innenhofes hören, den Nachhall. Dazu der Druck in seinen Schläfen, seinem Brustkorb. Und nur ein Gedanke schoss ihm dabei durch den Kopf: „Meine Tabletten, ich brauch meine Tabletten!“
Lesen Sie morgen Teil 3.
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