Florentina Holzinger, 1986 in Wien geboren, macht das Theater, von dem andere nur träumen: spektakulär, inklusiv, geradezu überwältigend. Ihre jüngste Arbeit, „Ophelia’s Got Talent“, dominierte die Nestroy-Gala am Sonntag: Eine der wagemutigen Performerinnen, Saioa Alvarez Ruiz, wurde als beste Schauspielerin ausgezeichnet – und Nikola Knežević für das beste Bühnenbild. Zudem war die vor Ideen, Zitaten und Literaturverweisen überbordende „Show“ zum Thema Wasser aus feministischer Sicht, eine Koproduktion der Volksbühne Berlin und des Tanzquartiers, für den Nestroy als beste Aufführung im deutschsprachigen Raum nominiert.
Dass die Statuette dann an Jossi Wieler für die Uraufführung von Elfriede Jelineks „Angabe der Person“ ging, dürfte „Flo“ Holzinger nicht gegrämt haben: Sie erhielt bereits 2020 einen Regie-Nestroy – für die Choreografie „Tanz. Eine sylphidische Träumerei in Stunts“, von der Zeitschrift "Theater heute" damals zur Inszenierung des Jahres gekürt.
KURIER:In „Ophelia’s Got Talent“ erzählen Sie überraschend und auch berührend, dass Sie an Magersucht gelitten haben. Wodurch wurde sie ausgelöst?
Florentina Holzinger: Das ist schwierig zu beantworten. Es ging um Ungereimtheiten in Bezug auf meine Identitätsfindung und die Forderungen, die an einen gestellt werden. Oder man hat zumindest den Eindruck, dass sie an einen gestellt werden. Es hat jedenfalls dazu geführt, dass ich mich – ich war damals zehn – nicht wohlgefühlt habe in meiner eigenen Haut.
Bereits mit zehn Jahren?
Das war eine vorpubertäre Magersucht. Sie tritt zum Beispiel bei Mädchen auf, die nicht zur Frau werden wollen. Ja, es gab diesen Struggle mit den gesellschaftlichen Anforderungen an das, was Frausein genau bedeutet.
War diese damalige Lebensphase mit ein Grund, warum Sie mit dem Körper arbeiten?
So weit würde ich jetzt nicht gehen. Das ist ewig lang her und hat danach keine große Rolle mehr gespielt. Wahrscheinlich war auch diese Phase ein Teil der Erfahrungen, die mein Leben zusammengewürfelt haben. Aber ob ich deswegen in der Choreografie gelandet bin?
Welche Erfahrungen haben denn Ihr Leben bestimmt?
Es gab schon einige Exkurse. Ich habe mal versucht, BWL und auch Architektur zu studieren, aber ich konnte nicht wirklich Zeit in einem Lesesaal verbringen. Ich wollte mich bewegen und darüber ausdrücken. Tanz war meine Leidenschaft in meinen 20-ern. Damals wollte ich nichts anderes machen – und schon gar nicht im Hörsaal sitzen.
Hat das Tanzquartier schon damals eine Rolle gespielt?
Nein, ich hab eine Detour nach Amsterdam gemacht und dort fast zehn Jahre gelebt. Durch das Brut und das Impulstanz-Festival bin ich wieder nach Wien gekommen – und 2018 Betty (Direktorin Bettina Kogler, Anm.) ans Tanzquartier gefolgt. Ich bin auch zurückgekehrt, weil ich hier wenig Miete gezahlt hab. Weil ich mit offenen Armen empfangen wurde. Und weil ich das Wiener Publikum leiwand empfunden hab.
Ihre Arbeit wird unter „Tanz“ eingeordnet. Aber passt dieses Label? Sie machen Spektakel, Show, Artistik, Schabernack – einfach Theater.
Mir ist egal, was das ist. Es ist etwas von allem irgendwie. Viele definieren unsere Produktionen über den Aufführungsort. Wenn wir etwas im Theater machen, dann ist es eben Theater, und wenn wir etwas im Museum machen, dann ist es Kunst. Die Arbeit ist genreübergreifend. Ich finde es belustigend, in allen möglichen Kategorien vertreten zu sein. Action und Stunts sind definitiv in unserer Toolbox. Es interessiert uns, wenn der Körper physischen Herausforderungen ausgesetzt ist.
In „Ophelia’s Got Talent“ erproben Sie unter Wasser minutenlang das Aussetzen der Atmung. Es gibt Zirkuskunststücke, etwa das Schwertschlucken. Und ich nehme an, dass Sie auch mit simplen Theatertricks arbeiten.
Ja, wir arbeiten viel mit billigsten Tricks, aber auch viel mit Realität. Lustigerweise verwirren wir damit die Leute: Was ist Illusion und was Wirklichkeit? Das ist auch das Spannende. Denn wer erwartet sich schon, etwas von der Wirklichkeit zu sehen, wenn er ins Theater geht? Damit zu spielen ist für mich schon sehr cool.
Was war das Härteste, das Sie sich zugemutet haben? Einmal haben Sie sich einen acht Zentimeter langen Nagel in die Nase getrieben ...
Nach Covid mit unzähligen Nasenabstrichen von unausgebildeten Sanitätern war das nicht so Hardcore. Was das Härteste war? Alles verliert an Härte, wenn man es öfters macht oder trainiert. Die härteste Herausforderung ist für uns immer die finanzielle und technische Umsetzbarkeit. Wir sind immer extrem froh, wenn wir durch eine Show wieder die Mittel bekommen, weitere Ideen umsetzen zu können.
Sie denken immer groß.
Ich glaube nicht: je größer, desto besser. Aber wir haben Gefallen daran gefunden, unsere Möglichkeiten auszuloten, und wir versuchen, Unmögliches umzusetzen. Und das hat dann doch auch mit Masse oder Quantität zu tun. Aber gegen den Cirque du Soleil ist das gar nichts.
In „Ophelia’s Got Talent“ gibt es gleich drei Wasserbecken.
Da arbeiten wir schon auch mit der Illusion. Denn die wenigsten checken, dass der große Pool nur 30 Zentimeter tief ist. Wir sind eben geschult, hineinzuköpfeln.
Sie arbeiten mit einigen Akteurinnen schon seit mehreren Jahren zusammen. Manche kommen tatsächlich vom Zirkus. Ist der Ausdruck „Freakshow“ zulässig?
Darüber gibt es Diskussionen auch innerhalb meines Casts. Ich verwende den Ausdruck „Sideshow“. Er bedeutet das Gleiche. Es handelt sich dabei um das kleine Zirkuszelt, wo die grotesken, vielleicht etwas grauslichen oder gefährlichen Acts stattfinden – im Gegensatz zu den familientauglichen im großen Zelt, wo es ausschließlich um Unterhaltsamkeit und Virtuosität geht. Gefährlich, lustig und grauslich sind drei wichtige Ingredienzien meiner Arbeit, deswegen arbeite ich gerne mit Leuten aus diesem Bereich zusammen.
Sie haben ein sehr inklusives Ensemble: Es ist völlig egal, ob man groß oder klein, dick oder dünn ist. Es geht nur um die Leistung. Und alle spielen immer nackt. Das ist eine Grundbedingung?
Nein, früher habe ich nicht immer nackt gearbeitet. Das hat sich dann so ergeben. Und ich muss nicht jedes Mal die Ästhetik komplett neu erfinden. Wir gehen eher tiefer und tiefer in eine Materie. Und es geht auch immer um Sexualität oder Geschlecht. Das Nackt-Spielen hat sich irgendwie immer aufgedrängt.
In einem Interview habe ich gelesen, dass sich Männer in Ihren Vorstellungen selbstbefriedigen. Tatsächlich?
Definitiv. Die Spanner sind mittlerweile aber nicht nur Männer, inkludieren eigentlich alle Geschlechter. Aber das wundert mich nicht. Vielleicht gibt es auch Spanner im traditionellsten Sprechtheater in der Burg? Spanner gibt’s halt überall. Aber unsere Arbeit bietet sich speziell an, weil manche Leute gerne nackten Frauen zusehen, egal was die machen. Das hat eben ein erotisches Momentum für sie.
Und nun inszenieren Sie in Schwerin eine Oper von Paul Hindemith, die 2024 bei den Wiener Festwochen zu sehen sein wird. Sie ist allerdings nur 25 Minuten lang.
Daran können wir aus Urheberrechtsgründen nichts ändern. Wir können uns also nicht so wirklich daran vergreifen, die Oper wird eins zu eins aufgeführt. Aber wir gestalten drumherum so etwas wie eine musikalische Messe. Denn in dieser Oper geht es um einen Nonnenorden. Und ein fun fact: „Sancta Susanna“ ist die einzige Oper, die ich auch auf Pornoseiten gefunden habe. Weil es da um sexuell besessene Nonnen geht und um unterdrückte Libido, die explosiv hervorkommt. Insofern wäre es für uns schwierig, der Nacktheit zu entgehen.
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