Filmfestival in Venedig: Generation ohne Eigenschaften

Brutales Rachedrama von Jennifer Kent: „The Knightingale“ mit Aisling Franciosi
Errol Morris interviewt Steve Bannon, Frederick Wiseman besucht Trump-Land, Natalie Portman singt.

Spontaner Szenenapplaus während der Vorführung eines Films in Venedig. Es handelt sich um das Rachedrama „The Nightingale“ von Jennifer Kent, der einzigen Frau, die es in den Wettbewerb von Venedig geschafft hat. Doch was für eine Enttäuschung.

In Kents brutalem Rape-Revenge-Rausch nimmt eine vergewaltigte junge Irin Rache an ihrem britischen Peiniger. Nachdem sie ihn gute zwei Filmstunden lang quer durch den tasmanischen Busch des Jahres 1825 gejagt hat, steht sie ihm schließlich Aug’ in Aug’ gegenüber – gemeinsam mit ihrem Begleiter, einem Aborigine. Dieser rammt einen Speer in die Brust des bösen weißen Mannes – und wird vom Publikum mit Applaus belohnt.

Eine Reaktion, die doch recht verstört, zumal sich „The Nightingale“ seinen Jubel-Effekt allzu billig abholt. Zwar hat sich die Australierin mit ihrem sensiblen Horror-Debüt „Babadook“ einen guten Ruf erworben; doch mit ihrer letztendlich recht konventionell erzählten Blutrunst, den die Frau mit dem enteigneten Aborigine teilt, kann sie dem Genre nicht allzu viel hinzufügen. Umso weniger, als der britische Offizier in seiner schematischen Bösartigkeit, die ihn nebenher auch noch Kinder abknallen lässt, zur Karikatur verblasst.

Polarisiert

So bewegt sich der heuer insgesamt sehr starker Wettbewerb seinem Finale und der Löwen-Vergabe am Wochenende entgegen.

Der Beginn des Filmfestival in Toronto wirft bereits seine Schatten, aber Venedig ist es trotz dieser Konkurrenz wieder gelungen, sich als wichtige Startrampe für die neue Oscar-Saison zu positionieren. Dabei ist die amerikanische Präsenz auf dem Lido gut fühlbar und führte mitunter zu heftigen diskursiven Auseinandersetzungen.

Besonders der renommierte Oscarpreisträger und Dokumentarist Errol Morris musste sich bei einer Pressekonferenz von US-Journalisten harte Fragen zu seinem neuen Film gefallen lassen. Morris führt in „American Dharma“ ein umstrittenes Gespräch mit dem Rechtspopulisten, Breitbart-Mitbegründer und Ex-Trump-Berater Steve Bannon. Ein Interview, das vielen Beobachtern zu wenig investigativ und nachdrücklich schien. Zwar ringt Morris redlich mit bohrenden Fragen um die Entlarvung von Bannons rechtem, destruktivem Politikverständnis. Gleichzeitig aber bietet er ihm eine ideale Plattform für dessen beinahe schon charismatische Selbstdarstellung.

Für Polarisierung sorgte auch bereits Regisseur Damien Chazelles Eröffnungsfilm „First Man“: Weil angeblich zu wenig US-Flaggen während der Mondlandung zu sehen sind, wurde „First Man“ vom republikanischen Senator Marco Rubio als unpatriotisch verurteilt – ein harter Vorwurf im heutigen Trump-Amerika.

Im Gegensatz zu diesen Zuspitzungen, suchte der Dokumentar-Veteran Frederick Wiseman nicht die inneramerikanische Spaltung, sondern den Dialog: Mit seiner Kleinstadtstudie „Monrovia, Indiana“ begibt sich Wiseman mitten ins Herz von Trump-Land im Mittleren Westen und beobachtet dort leise die alltäglichen Tagesabläufe. Kirchgänge, Dorffeste, Schulchöre: Die Routinen eines geordneten Kleinstadtlebens entfalten sich in provinzieller Fadesse, oft mit komischen Nuancen. Doch gerade die penibel beobachteten Sitzungen des städtischen Gemeinderates, wo es um so wichtige Fragen wie die Anschaffung einer neuen Parkbank geht, verraten die unterdrückten Ängste ihrer ausschließlich weißen Mitglieder: Der geplante Anbau neuer Wohnsiedlungen wird heftig diskutiert und im Zuge dessen vor dem Zuzug von kriminellen „new folks“ gewarnt. Niemand spricht aus, wer damit gemeint sein könnte, auch der Name Trump fällt kein einziges Mal. Trotzdem gelingt es Wiseman, die Fundamentalismen und Beschränkungen eines weißen Amerikas zu porträtieren, ohne gleich ein vernichtendes Urteil zu fällen.

Filmfestival in Venedig: Generation ohne Eigenschaften

Nathalie Portman macht Karriere als Pop-Sängerin  in „Vox Lux“ von Brady Corbet

Pop-Pessimismus

Der aufkeimende Rechtspopulismus sowohl in Amerika als auch in Europa beschäftigte viele der Regiearbeiten in Venedig. Mit einem Hauch von „Indie-Touch“ im Wettbewerbsreigen der großen Namen konnte sich jedoch vor allem der Newcomer Brady Corbet profilieren. Bereits mit seinem Filmerstling „The Childhood of a Leader“ über die Kindheit eines faschistischen Anführers unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, erregte der Schauspieler Aufsehen. Mit „Vox Lux“ trieb Brady Corbet sein Interesse für die Entwicklung von Populismus in die unmittelbare Gegenwart.

Es beginnt mit einem Highschool-Shooting: Nachdem sie knapp ein Massaker an ihrer Schule überlebt hat, wird eine junge Schülerin mit einem Popsong, der dieses Erlebnis verarbeitet, berühmt.

Weitere Traumatisierungen wie die Attentate von 9/11 kanalisiert die junge Frau (als Erwachsene gespielt von Natalie Portman) in eine glamouröse Karriere als Popsängerin, deren moralische Werte dabei komplett ausgehöhlt werden.

„Vox Lux“ erzählt mit sardonischem Unterton eine intime, düstere Erziehung des Herzens als Verlust einer Haltung in Zeiten politischer Umbrüche. Inspiriert dazu habe ihn „Der Mann ohne Eigenschaft“ des österreichischen Schriftstellers Robert Musil: Auch der habe gewusst, was es bedeutet, in Zeiten großer Umbrüche zu leben.

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