Muss man das Sehen erst lernen? Oder ist Sehen nicht etwas, was wir ohnehin schon von klein auf können?
Nein, behauptet das Österreichische Filmmuseum. Auch Sehen will gelernt sein. Deswegen nennt sich das Filmmuseum auch „Schule des Sehens“ – und wendet sich mit seinen Programmen nicht nur an Erwachsene, sondern auch ganz speziell an Kinder und Jugendliche.
„Filmvermittlung“ lautet das Stichwort – und an dieser Stelle schläft den meisten Menschen das Gesicht ein. Unter dem Begriff „Vermittlung“ drängen sich verstaubt klingende Konzepte wie „pädagogisch wertvoll“ auf – und das riecht nach Langeweile.
Als sie vor langer Zeit ihren damals kleinen Sohn zu einer Schulveranstaltung ins Filmmuseum begleitete, hielt sich der Spaß für die Kinder noch in Grenzen, erinnert sich die Filmproduzentin Ursula Wolschlager: Die Kleinen formten die ausgeteilten Programme zu Kügelchen und beschossen sich gegenseitig, anstatt den klugen Ausführungen des Medienvermittlers vor der Leinwand zu folgen.
Doch das ist lange her.
Damals beschloss Ursula Wolschlager, gemeinsam mit der Filmregisseurin Veronika Franz, ein eigenes Filmprogramm zusammenzustellen und im Filmmuseum anzubieten. Über zehn Jahre lang präsentierten sie dort Kindern das Programm „Wie kann eine Katze größer sein als ein Mensch?“ und erweckten große Begeisterung.
So zeigten sie Clips aus dem Sci-Fi-Klassiker „The Incredible Shrinking Man“ (1957), in dem eine Mann plötzlich zu schrumpfen anfängt und sich vor seiner Hauskatze fürchten muss.
Oder Charlie Chaplin, der sich in „Der Zirkus“ (1928) versehentlich mit einem schlafenden Löwen in einen Käfig einsperrt; und bei einem Drahtseilakt plötzlich zwei aufgeweckte Affen auf der Schulter sitzen hat, die ihm eifrig den Kopf lausen.
„Das Highlight des Programms war immer Charlie Chaplin“, erinnert sich Wolschlager: „Der ist bei den Kindern einfach wahnsinnig gut angekommen. Chaplin kann sich einfach so gut hineinversetzen, was es bedeutet, ein Kind zu sein: Man fühlt sich erwachsen, aber man wird nicht ernst genommen.“
Auch Veronika Franz erinnert sich an jene berührenden Momente, in denen Kinder, die mit YouTube-Videos aufwachsen, erstmals einen Stummfilm von Chaplin oder Georges Méliès sehen – und hingerissen klatschen: „Da entfaltet sich die Magie des Kinos und man spürt, was Kino kann.“
Schule des Sehens
„Wir sind es gewöhnt, in allen Lebensbereichen von Bewegtbildern umgeben zu sein. Wir glauben, dass Sehen etwas ist, womit man sich nicht beschäftigen muss. Doch das ist ein Fehlschluss“, sagt Stefan Huber, Leiter der Abteilung für Vermittlung im Filmmuseum: „Es ist wichtig, sich darüber Gedanken zu machen, welche Strategien ein Film entwickelt, um uns eine Geschichte zu erzählen, uns emotional zu berühren oder auch, um eine bestimmte Botschaft unterzubringen.“ Der Anspruch der Filmvermittlung für Kinder und Jugendliche liege darin, das Kritische Rezipieren von Filmen zu fördern: „Zentral bei unseren Veranstaltungen ist der Akt des gemeinsamen Sehens. Wenn alle denselben Film gesehen haben, schafft man damit eine Möglichkeit für ein gemeinsames Gespräch. Man braucht kein spezielles Hintergrundwissen, um einen Film zu verstehen.“
Auch sehr junge Kinder könnten schon komplexe Zusammenhänge durchschauen, wenn man sie altersgerecht anbietet, glaubt Huber. Dabei ginge es weniger konkret um Kinderfilme, sondern um Filme, die für Kinder und Jugendliche interessant sind und anhand denen sie erkennen können, wie Geschichten erzählt werden und Bilder funktionieren.
Was die konkrete Medienerziehung in den Schulen anbelangt, gibt es noch viel Luft nach oben. „Klassische Schulfilme“ wie etwa „Schindlers Liste“ werden beispielsweise gerne im Geschichtsunterricht zum Thema Holocaust gezeigt. Auch hierzu bieten Programme im Filmmuseum zusätzliche Angebote: „Uns geht es darum zu zeigen, dass historische Ereignisse sich nicht nur anhand eines Filmbeispiels, sondern anhand von verschiedenen Filmen aufschließen lassen. Wir haben eine Veranstaltung zu Bildern des Holocaust. Da zeigen wir unterschiedliche Filme – von Spielfilmen bis hin zu Amateuraufnahmen von US-Soldaten, die die Konzentrationslager befreiten. Wenn man verschiedene Bilder sieht, werden die Fragen vielfältiger. Das ist wichtig und fördert das kritische Denken.“
Es existieren zahlreiche Initiativen, Festivals und Programme, um Kinder und Jugendliche näher ans Medium Film heranzubringen. So wird etwa im Rahmen der Akademie des Österreichischen Films – in Kooperation mit dem Kino VOD Club – der „Lei(n)wand Kino Club“ eingerichtet. Kinofans zwischen 13 und 15 Jahren haben die Möglichkeit, einmal im Monat gratis einen österreichischen oder europäischen Film zu streamen, der dann bei einem Online-Club-Treffen gemeinsam diskutiert wird. (Voranmeldung unter screening@oesterreichische-filmakademie.at).
Die bereits vierte Ausgabe des EU-Jugendkinos im Rahmen des LET’S SEE Filmfestivals widmet sich dem Thema Friedensarbeit und Erinnerungskultur. (Infos unter www.youth-cinema.eu/programm)
Filmprogramme für die ganz Kleinen bietet etwa das Kurzfilmfestival dotdotdot: Festivalfilme für Kinder ab vier Jahren großteils kostenlos unter: https://dotdotdot4plus.at
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