Filmkritiken der Woche: "Die Wütenden" und Hitler als imaginärer Freund
Die Schule in dem Pariser Brennpunktviertel Montfermeil heißt nicht zufällig „Victor Hugo“. Ein wichtiger Teil von Hugos sozialrevolutionärem Literaturklassiker
„Les Miserables“ spielt genau in diesem Stadtteil – und auch der Dokumentarfilmemacher Ladj Ly ist in dem hartgesottenen Banlieue aufgewachsen.
Die Wütenden - Les Misérables
Für sein Regiedebüt ließ sich Ladj Ly, dessen Familie aus Mali stammt, von den gewaltvollen Unruhen in den Pariser Vororten aus dem Jahr 2005 inspirieren, bei denen zwei Jugendliche auf der Flucht vor der Polizei ums Leben kamen.
Nun haben Banlieue-Filme im Kino eine satte Tradition und reichen weiter zurück als Mathieu Kassovitz’ stilprägendes Urban-Drama „Hass“. So gesehen erfindet Ly das Genre-Rad keineswegs neu, besticht aber durch seine haarscharfen Milieubeobachtungen. Man spürt, dass er das Straßenleben zwischen den Hochhausschluchten der Sozialbauten wie seine Westentasche kennt und andere Bilder liefert, als bloß touristisches Anschauungsmaterial aus einer Sozialhölle.
Löwenbaby
Unterschiedliche Bevölkerungsgruppen in unterschiedlichen Machtpositionen beherrschen das Zusammenleben und bestimmen die lokale Hackordnung. Bei Meinungsverschiedenheiten wird heftig gestritten und der Baseballschläger, mit dem man dem Konkurrenten die Autoscheibe zertrümmert, ist nie weit. Am friedvollsten erweisen sich ausgerechnet die Muslim-Brüder: Mit ihren langen Bärten bilden sie beinahe eine Art Ruhepol in der aggressiven Nachbarschaft.
Als der Roma-Gang aus dem örtlichen Wanderzirkus ein Löwenbaby abhanden kommt, droht sofort ein Bandenkrieg. Nur mit Mühe können die drei patrouillierenden Polizisten für temporären Waffenstillstand sorgen.Die Polizisten sind es auch, durch deren Sonnenbrille Ladj Ly das Stadtviertel weitgehend in den Blick nimmt. Angeführt von „Pink Pig“ Chris, einem cholerischen Cop, der mit atemberaubender Impertinenz junge Mädchen auf Drogenbesitz abtastet und aus seinem Rassismus keinen Hehl macht, kontrollieren sie die „Hood“ und sorgen für Reibereien.
Stéphane, dem Neuankömmling in der Polizeieinheit, bleibt förmlich die Spucke weg angesichts der Übergriffigkeit seines Kollegen. Tatsächlich kommt es im Handgemenge mit einer Gruppe von Jugendlichen zu einem peinsamen Zwischenfall: Ein Gummigeschoss verletzt eines der Kinder schwer im Gesicht. Die Polizei versucht, ihr „Missgeschick“ zu vertuschen („Wir entschuldigen uns nie!“)
Minimalistischer Electro-Sound treibt die (manchmal etwas vorhersehbare) Handlung im grellen Sonnenlicht vor sich her, eine erlebnishungrige Kamera aus nächster Nähe hält die Bilder in atemloser Bewegung. Manchmal unterbricht ein Drohnenflug die verschwitzten Nahansichten und bietet einen deprimierenden Blick auf eine Architektur der Verwahrlosung und der Tristesse. Er bestätigt eine schmerzvoll Wahrheit, die der „gute“ Cop einem Banlieue-Bewohner warnend entgegen hält: „Am Ende seid ihr allen scheißegal.“
INFO: F 2010. 104 Min. Von Ladj Ly. Mit Damien Bonnard, Alexis Manenti.
Filmkritik zu "Jojo Rabbit": Heil Hitler, Shitler, und lass uns ein paar Bücher verbrennen
Als die Beatles ihren berühmten Song “I Want to Hold Your Hand“ sangen, haben sie wohl kaum an die Nazis gedacht. Anders Taika Waititi, neuseeländischer Regisseur („Thor: 3: Tag der Entscheidung“) mit jüdischen Wurzeln und Maori-Background: Zu Doku-Material aus dem Zweiten Weltkrieg zeigt er Deutsche mit Hitlergruß und spielt dazu flott die deutsche Beatles-Version „Komm gib mir deine Hand“.
Danach geht’s gleich weiter ins Lager der Hitlerjugend, wo ein paar Vorzeige-Nazis (Sam Rockwell mit Glasauge und Rebel Wilson als Fräulein Rahm) junge Buben in Kriegsspiele und Bücherverbrennung einweihen. Und schließlich der Führer selbst: Mit rollendem R und seltsamen Ausdrücken wie „Korrektomando“ hüpft er mit Rotzbremse durchs Lager und gibt gute Ratschläge: „Werde zu dem Hasen.“ Für den zehnjährigen Hitlerjungen Jojo ein teurer Hinweis, nachdem er selbst den Spitznamen Jojo Hasenfuß verpasst bekam.
Hitler ist Jojos imaginärer Freund und macht Hausbesuche im Kinderzimmer. Taika Waititi in furioser Führerrolle spielt den deutschen Reichskanzler als neurotischen Eiskomiker, der gerne auch mal Einhorn speist, sich und seine Nazi-Parodien aber in der zweiten Hälfte der Handlung stark zurücknimmt. Anstelle der erhofften, anarchischen Satire mit Hang zur Groteske, kommt eine zarte, letztlich recht konventionelle Coming-of-Age-Geschichte zum Vorschein: Jojo, selbsterklärter Antisemit, lernt eine junge Jüdin kennen, die seine Mutter im Haus versteckt hält. Für diese Rolle wurde Scarlett Johansson mit einer Oscarnominierung belohnt.
INFO: CZ/NZL/USA 1919. 108 Min. Von Taika Waititi. Mit Roman Griffin Davis, Scarlett Johansson.
Filmkritik zu "Wolf-Gäng": Hexe mit Flugangst und Werwolf mit Fell-Allergie
„Die deutsche Antwort auf Joanne K. Rowling“ wird der deutsche Fantasy-Autor Wolfgang Hohlbein immer wieder genannt. Mit einer weltweiten Auflage von etwa 44 Millionen Büchern ist er jedenfalls einer der meistgedruckten deutschen Schriftsteller. Und so war es nur eine Frage der Zeit, bis einige seiner Romanhelden auf der großen Leinwand landeten. Der Erfolg der Harry-Potter-Reihe macht eben (Kino-)Schule.
Hohlbeins „Wolf-Gäng“ wurde passenderweise in Hessen gedreht. In jener Stadt also, in der einst die wohl berühmtesten Märchensammler der Welt gelebt haben: Die Brüder Grimm. Der Film erzählt vom 13-jährigen Vlad, der mit seinem Vater in eine Stadt zieht, in der es nur so wimmelt von Feen, Hexen, Trollen und Zwergen. Er soll an einer der berühmtesten magischen Schulen dieser Fantasy-Welt neue Tricks erlernen – und von seinem Leiden geheilt werden: Er ist ein Vampir, der kein Blut sehen kann. Unter seinen Mitschülern sind zwei weitere Außenseiter, mit denen er sich anfreundet: Faye, eine Hexe mit Flugangst, und Wolf, ein Werwolf mit Fell-Allergie. Gemeinsam sind sie stark und kommen einer mysteriösen Verschwörung auf die Spur.
Technisch kann der Film mit dem großen Harry-Potter-Vorbild durchaus mithalten, und die mittelalterlichen Drehorte sind wie gemacht für einen Fantasy-Film. Leider sind die Protagonisten der Story zu oberflächlich gezeichnet, um wirklich mitreißend zu sein. Für ein jugendliches Publikum wird die Geschichte aufgrund recht witziger Slapstick-Momente trotzdem kurzweilig sein.
Text: Gabriele Flossmann
INFO: D 2020. 97 Min. Von Tim Tragesser. Mit Sonja Gerhardt, Christian Berkel, Axel Stein.
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