Filmkritik zu "The Nest: Gespenstische Lebenslügen mit Jude Law
Manchmal kann man nicht genau sagen, warum es so ist, aber man spürt es deutlich: Irgendetwas stimmt nicht.
So geht es auch Allison, einer Mutter von zwei Kindern und Ehefrau eines erfolgreichen britischen Bankers: Sie hat das Gefühl, dass etwas nicht stimmt.
Wie erschlagen steht Allison vor einem riesigen, 300 Jahre alten englischen Landschloss, das ihr Mann Rory angemietet hat. Die Familie ist gerade aus den USA nach England übersiedelt, wo Rory einen Job antritt. Er ist begeistert von dem neuen Heim und führt Frau und Kinder durch die düsteren, holzvertäfelte Hallen: „Led Zeppelin haben hier eine Platte aufgenommen!“
Trotzdem will sich im Familienalltag kein Gefühl der Behaglichkeit einstellen. Den Kindern sind die hohen, dunklen Räume unheimlich. Allison selbst fühlt sich verfolgt, und ihr Pferd, das sie aus Amerika mitgenommen hat, tobt nervös im Stall.
Ist das Haus verhext? Befinden wir uns in einem Geisterfilm, wo die Seelen unerlöster Menschen durch die Hallen wandeln? Oder steuert die Geschichte doch eher in Richtung Thriller à la Hitchcock, wo ein Verbrechen bevorsteht? Vielleicht gar Familienhorror wie in Kubricks „The Shining“? Geht es um eine Mischung aus Ehekonflikt, Psychothriller, Neo-Noir und Yuppie-Mystery, angesiedelt in der handyfreien Zone Mitte der 80er Jahre?
Bedrohlich
Das Wunderbare an Sean Durkins lauerndem Familiendrama „The Nest“ ist sein seltsamer Schwebezustand, der sich beunruhigend mit den Filmbildern verwebt. Zwar wird meist aus der Perspektive von Allison erzählt, die als Amerikanerin unter den kühlen Verhaltensregeln der britischen Upper Class zu leiden hat. Doch die Blickwinkel der Kamera suggerieren eine andauernde Bedrohung, ohne sie näher zu bestimmen. Sparsame Musik auf dem exzellenten Soundtrack intensiviert ein Gefühl von Paranoia. Und das rätselhafte Verhalten des Pferdes wird zum Inbegriff von Allisons Hilflosigkeit.
Während sich seine Frau im häuslichen Melodrama ihres neuen Heims am Land verfängt, prahlt Rory vor den Geschäftskollegen in der City mit seinen finanziellen Triumphen. Jude Law spielt seinen glatten Yuppie mit fiebriger Unruhe, als müsse er böse Geister von sich fernhalten. Tatsächlich aber sind es die Lebenslügen, die der Familie zu schaffen machen, eine Gespenster.
Der Ton zwischen dem Ehepaar verschärft sich. Carrie Coon als strapazierte Allison findet die Angebereien ihres Mannes zunehmend unerträglich, beim Dinner werden Gehässigkeiten ausgetauscht: „Du bist peinlich.“ – „Und du bist ermüdend.“
Irgendwann beginnt Regisseur Durkin, Antworten auf die offenen Fragen seiner Geschichte zu liefern und setzt damit bis zu einem gewissen Grad einen Prozess der Entzauberung in Gang.
Aber: Die Energie seines Schauspielensembles ist unermesslich und erhellt jeden noch so kleinen Erzählwinkel. Und: Sean Durkin denkt in großen Bildern, die eindeutig für das Kino gemacht wurden und nicht für einen Streamingdienst. Seine Leidenschaft ist in jeder Einstellung spürbar und wirkt absolut hypnotisch.
Man kann den Blick nicht mehr abwenden
INFO: GB/CAN 2020. 107 Min. Von Sean Durkin. Mit Jude Law, Carrie Coon
Filmkritik zu "Bad Luck Banging or Loony Porn": Bigotter Elternverein
Es beginnt mit einem Amateur-Porno. Ein Ehepaar filmt sich beim Sex und stellt das Video online. Durch ein Missgeschick kursiert es frei zugänglich im Internet. Dort kann es jeder sehen, vor allem auch die Schüler und Schülerinnen der Frau, die von Beruf Lehrerin ist. Schnell sind die Boulevard-Zeitungen zur Stelle, und schon ist von der „Porno-Lehrerin“ die Rede. Die Karriere der jungen Frau steht auf dem Spiel.
„Bad Luck Banging or Loony Porn“ nennt Radu Jude seine irrwitzigen Farce auf das postkommunistische Rumänien, mit der er heuer auf der Online-Berlinale – völlig verdient – den Goldenen Bären gewann.
Im treffsicheren Fokus seiner Kamera entsteht das scharfe Bild einer entsolidarisierten Gesellschaft im Zustand des konsumbewussten Dauerstress: Die Stadtbewohner wandern bei Gluthitze durch die Endlosbaustelle Bukarest, brüllen sich wechselseitig im Straßenverkehr nieder oder beschimpfen sich an der Supermarktkasse. In zweiten Teil seines Films montiert der Regisseur verschiedenes Archivmaterial von Werbespots bis zu Nachrichtenbilder zusammen und kommentiert bissig die Verstrickungen der orthodoxen Kirche mit dem Faschismus.
Totalitarismus
Das Finale, in dem der Elternrat zusammentritt und berät, ob die „Porno-Lehrerin“ weiter an der Schule bleiben darf, inszeniert Radu Jude als schrille Sitcom.
Nationalistische Väter werfen der Lehrerin vor, dass sie die Schüler mit dem Holocaust indoktriniere, bigotte Mütter fürchten um die Moral ihrer Kinder. Unterhaltsam und ernst zugleich, untersucht Radu Jude den Totalitarismus und seine Auswirkungen auf die Gegenwart. Unnachgiebig wirbelt er den Bodensatz der rumänischen Gesellschaft auf und schüttet ihn seinem Publikum ins Gesicht.
INFO: ROU 2021. 106 Min. Von Radu Jude. Mit Katia Pascariu, Claudia Ieremia
Filmkritik zu "Risiken und Nebenwirkungen": Nierengeher
Würde er? Oder würde er nicht? An dieser Frage entbrennt ein Ehestreit. Im konkreten Fall geht es aber nicht um eine Herzensangelegenheit, sondern um ein anderes Organ.
Um eine Niere.
Arnold – von Beruf Architekt – plant mit seiner Ehefrau Kathrin und mit Diana und Götz, einem befreundeten Ehepaar, den Bau-Auftrag für ein Hochhaus zu feiern. Da platzt das Ergebnis einer Vorsorgeuntersuchung herein: Er ist kerngesund. Seine Frau leidet an Niereninsuffizienz. Also konfrontiert sie den Ehemann mit der Frage, ob er für sie zu einer Organspende bereit wäre.
Dass Arnold um Bedenkzeit bittet, stößt Kathrin nicht nur vor den Kopf. Götz antwortet dagegen spontan. Er ist sofort bereit, eine seiner Nieren zu spenden. Götz’ Ehefrau Diana wiederum fühlt sich von dieser Entscheidung überrumpelt. Ist sie eifersüchtig? Auf Götz? Auf seine Niere?
Ein regelrechter Kampf bricht aus, der allen ans Herz und an die Nieren geht. Zu den „Risiken“ dieser Organspende gehören bittere Wahrheiten über eheliche Liebe und Treue.
Unter dem Titel „Die Niere“ war diese Boulevardkomödie des österreichischen Autors Stefan Vögel bereits erfolgreich an mehreren deutschsprachigen Bühnen zu sehen. Dass der Film auf einem Bühnenstück basiert, merkt man der etwas statischen Inszenierung an. Man kann dies auch positiv sehen: „Die Niere“ wurde werkgetreu inszeniert, ohne Risiken und Nebenwirkungen.
Text: Gabriele Flossmann
INFO: Ö 2021. 88 Min. Von Michael Kreihsl. Samuel Finzi, Inka Friedrich
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