Die Gute-Nacht-Geschichten, die die Mutter ihrem kleinen Sohn erzählt, sind brutal: Sie handeln davon, wie ein Polizist mit gezückter Pistole eine Wohnungstür eintritt, Kinnhaken verteilt, Messer in Beine rammt und elegant vom Balkon springt. „Papa ist so stark“, jubiliert das Kind: „Bitte weiter erzählen!“
Denn Papa ist tot. Er ist als Polizist im Dienst verstorben, und seitdem lässt ihn seine Witwe Yvonne – übrigens auch Polizistin – jeden Abend für den Sohn wieder auferstehen: Rasant inszeniert wie in einer Parodie auf alte Thriller mit Jean-Paul Belmondo, stürmt der Vater durch die Tür. Solange, bis die Mutter die Geschichte abbricht und wir uns wieder im Kinderzimmer befinden.
Lieber Antoine als gar keinen Ärger
Regisseur Pierre Salvadori versteht es, Register zu ziehen. Nicht nur der fulminante Einstieg im Retro-Look, auch der Rest seiner schlagfertigen Screwball-Komödie pendelt lässig zwischen abgründigem Witz und treuherzigem Ernst.
Derber Dämpfer
Yvonnes heldenhafte Gute-Nacht-Geschichten bekommen einen derben Dämpfer, als sie erfährt, dass ihr lieber Ehemann keineswegs nobler Polizist, sondern korrupter Cop war. Er brachte sogar einen Unschuldigen namens Antoine ins Gefängnis, nur um seine Schuld zu vertuschen.Yvonne schäumt vor Wut. Ihr ganzes Leben, eine Lüge! Und der arme Mann, der unschuldig im Gefängnis saß! Wie kann sie das wieder gutmachen?
Unauffällig heftet sie sich auf die Fersen von Antoine.
Dieser befindet sich, frisch aus der Haft entlassen, völlig neben der Spur: „Lieber Arschloch als Opfer!“ lautet sein neues Motto. Man hält ihn für einen Verbrecher? Gut, dann wird er sich auch so verhalten: Antoine verteilt Kopfnüsse, überfällt Trafikanten und beißt Passanten das Ohr ab. Yvonne, von schlechtem Gewissen zerfressen, wacht wie ein Schutzengel über ihn.
Die französische Schauspielerin Adèle Haenel, derzeit auch in „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ im Kino, lässt das dramatische Rollenfach entspannt hinter sich und entpuppt sich als gewitzte Komödiantin. Hoch erhobenen Hauptes – einmal sogar mit S/M-Maske samt Hirschgeweih – marschiert sie durch bizarr-komische Szenarien, mit denen der Haftentlassene die Polizei auf Trab hält. Vor lauter Ärger mit Antoine übersehen sie und ihr Kollege sogar einen sanftmütigen Serien-Mörder, der mit abgeschnittenen Gliedmaßen im Plastiksackerl auf dem Kommissariat herum lungert und hofft, endlich verhaftet zu werden.
Es war nur fake, aber es war schön, findet Antoine, als sich das vergnügliche Verwechslungsspiel dem Ende zuneigt. Und genauso soll es sein, im Kino.
Filmkritik zu "Das Wunder von Marseille": Schachspielen für das Bleiberecht
Früher wurde Gérard Depardieu von Frauen und Kritikern geliebt. Heute gilt er vielen als Ekel. Vor allem, seit aus dem Franzosen ein russischer Staatsbürger wurde – um Steuern zu sparen. Und ausgerechnet als miesgelaunter Schachtrainer schmeichelt er sich nun wieder in die Herzen des Kino-Publikums, indem er einem Flüchtlingsbuben zu einer neuen Existenz verhilft.
Das Wunder von Marseille
Hals über Kopf müssen Fahim und sein Vater aus Bangladesch flüchten. Politische Unruhen erschüttern das Land. Sie fliehen nach Europa und stranden in einem der hässlichen Vororte. Wohnungslos, ohne Papiere und immer in Gefahr, jederzeit von der Polizei aufgegriffen und abgeschoben zu werden.
Das Geld geht aus, der Vater darf nicht arbeiten, der Sohn muss in die Schule, die Sprache lernen und sich auch um den Vater kümmern. Bis eben der von Depardieu bärbeißig-mitfühlend gespielte Trainer des örtlichen Schachklubs auf Fahim aufmerksam wird: Der Bub soll unter seiner Anleitung Schach-Jugendmeister werden. Als Sieger soll er das Bleiberecht erhalten, da es doch Vorteile für die französische Nation hat, sich mit einem Weltmeister rühmen zu können.
Der Film beruht auf wahren Begebenheiten: Fahim, dem im Heimatland wegen seines Schachtalents mit Entführung bedroht wurde, kam 2008 nach Frankreich. Dort lernte er Sylvain, einen der besten Schachlehrer Frankreichs kennen, der in seiner physischen Erscheinung tatsächlich Depardieu ähnelt. Fahim gewann den Titel des Jugend-Schachweltmeisters im Jahr 2012.
Eine rührende Vater-Sohn-Geschichte, die der aktuellen Flüchtlings-Debatte menschliche Gesichter verleiht. Das große Plus des Films ist der junge Laiendarsteller Assad Ahmed in der Hauptrolle, der sich gegen seinen sympathisch agierenden Gegenspieler Depardieu mehr als nur behaupten kann.
Text: Gabriele Flossmann
INFO: F 2019. 107 Min. Von Pierre-François Martin-Laval. Mit Gérard Depardieu, Assad Ahmed.
Filmkritik zu "Marianne & Leonard: Words of Love": So long, Marianne
Marianne Ihlen war kein Fan des weltberühmten Songs, den Leonard Cohen für sie geschrieben hatte: „So long, Marianne“ klang ihr zu sehr nach Abschied. Und tatsächlich bestand die intensive, aber kurzlebige Romanze zwischen dem kanadischen Sänger und der norwegischen Alleinerzieherin aus vielen Trennungen und Enttäuschungen.
Marianne & Leonard: Words of Love
Der britische Dokumentarfilmer Nick Broomfield, für kurze Zeit selbst ein Liebhaber von Marianne Ihlen, entwirft das schillernde Porträt einer Liebesbeziehung mit starker Schlagseite hin zu Cohen. Marianne, die in ihrem künstlerischen Umfeld offenbar in erster Linie als Muse in Erscheinung trat, bleibt trotz aller Anstrengungen Broomfields, sie in den Vordergrund zu spielen, doch weitgehen im Hintergrund.
Charismatisches, oft privates Film- und Fotomaterial, Tonaufnahmen und Interviews mit Freunden und Freundinnen von Cohen und Ihlen ergeben einen intimen, berührenden Einblick in das Bohemian-Leben der 60er Jahre. Deren Opfer wurden oftmals nicht nur die Frauen, sondern auch die Kinder.
INFO:USA 2019. 97 Min. Von Nick Broomfield. Mit Leonard Cohen, Marianne Ihlen, Judy Collins.
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