Filmkritik zu "Hinterland": Riesenrad schief, Stephansdom schräg
Stefan Ruzowitzky macht nicht zum ersten Mal seine Heimatstadt zum Mordschauplatz. Bereits in „Die Hölle – Inferno“ (2017) trieb sich ein Mörder durch die Straßen Wiens und hinterließ verstümmelte Leichen.
Auch in „Hinterland“ verwandelt der österreichische Oscarpreisträger die Hauptstadt in eine Bühne für bizarre Morde, doch ereignet sich die Todesserie nicht im Wien der Gegenwart, sondern nach dem Ersten Weltkrieg.
Im Jahr 1920 kehrt eine Gruppe ramponierter österreichischer Soldaten aus der russischen Gefangenschaft nach Hause zurück – und erkennt die Welt nicht wieder.
Ratlos deutet sie auf eine rot-weiß-rote Fahne, die aufgeregt im Wind flattert.
„Was ist das?“
„Das“ ist die Republik Österreich: „Den Kaiser gibt’s nicht mehr.“
Die neue Republik, das „Hinterland“, präsentiert sich den Heimkehrern als dunkler Albtraum. Nebelschwaden wabern über den Gräbern des Friedhofs der Namenlosen, dürre Bäume recken ihre Äste in den Himmel. Verkrüppelte Menschen schieben sich durch krumme Gassen mit schiefen Dächern, Straßenlaternen werfen unheimliche Schatten.
Die Soldaten kehren als Verlierer heim. Arbeitslos landen sie im Obdachlosenheim, wo ihnen ein damals noch Unbekannter Heftchen mit Hakenkreuzen in die Hand drückt.
Stefan Ruzowitzkys „Hinterland“ ist eine Mischung aus Computer, Caligari und Hitlers Wien. Inspiriert vom Geist des expressionistischen Films, beschwört „Hinterland“ die Motive des Kinos der 20erJahre; nicht zufällig entstand Robert Wienes berühmter Stummfilm „Das Cabinet des Dr. Caligari“ im Jahr 1920 und erzählt von einem Serienmörder.
Um die surrealen Schauereffekte der verzerrten Kulissen seines Horror-Wiens zu erzeugen, drehte Ruzowitzky mit der Blue-Screen-Technik: Das formsichere Szenenbild entstand am Computer, die Schauspieler und Schauspielerinnen wurden vor nacktem blauem Hintergrund inszeniert. Mit allen Vor- und Nachteilen.
Fleischwolf
Genussvoll dreht Ruzowitzky jedes Wien-Klischee durch den expressionistischen Fleischwolf. Das Riesenrad hängt schief, der Stephansdom steht schräg.
Nahtlos fügt sich das hervorragend besetzte Schauspiel-Ensemble in die unheilvolle Stadtlandschaft ein, die ihre Kulissenhaftigkeit aber nie ganz abstreifen kann.
Murathan Muslu spielt grimmig Ex-Kriminalinspektor Peter Perg, der sich nach dem Krieg wieder ins zivile Leben eingliedern muss. Er fühlt sich von der neuen Gesellschaft ausgestoßen und zieht sich in seine leere Altbauwohnung zurück, wo die Erinnerungen an die Schützengräben ihre Schatten auf die weiße Wand werfen. Eine bizarre Mordserie, die in ihrer grotesken Inszenierung an Finchers Leichenschau in „Sieben“ erinnert, unterbricht sein Selbstmitleid.
Ein Serienmörder geht um und killt Soldaten. Perg beginnt zu ermitteln.
Für die zurückkehrenden Männer und eine vom Kaiser geprägte Gesellschaft stellen die „neuen Zeiten“ eine existenzielle Bedrohung dar. Einzig eine junge Frau namens Theresa, von Beruf Gerichtsmedizinerin und dank Liv Lisa Fries („Babylon Berlin“) mit dem perfekten Gesicht einer Stummfilmschauspielerin gesegnet, begrüßt die Veränderungen. Sie ist eine „Neue Frau“, typisch für die (Weimarer) Zeit nach 1918.
Theresa liebt die junge Republik, denn die hat ihre Emanzipation beschleunigt.
Gegen den traditionellen Stellenwert einer Ehefrau und Mutter hat sie als „new woman“ aber keine Chance.
Auch in der Geschlechterpolitik wirft der Faschismus seine Schatten voraus.
INFO: Ö/LUX/BEL/D 2021. 98 Min. Von Stefan Ruzowitzky. Mit Murathan Muslu, Liv Lisa Fries
Filmkritik zu "Curveball - Wir machen die Wahrheit": Flucht mit Rodel
„Curveball“, so erfahren wir gleich am Anfang, „ist eine wahre Geschichte. Leider.“
Sie erzählt von einer der größten Blamagen des deutschen Bundesnachrichtendienstes (BND) und den Auslösern des Irakkrieges.
Arndt Wolf ist ein Experte für biologische Waffen und davon überzeugt, dass Saddam Hussein heimlich Biowaffen produziert, mit denen er die Bevölkerung mit Milzbrand infizieren will. Als ein Iraker während eines Verhörs mit dem deutschen Geheimdienst dasselbe behauptet, greift Wolf dessen Aussagen erfreut auf. Auch der BND ist begeistert: Endlich kann man die überheblichen Amerikaner und ihren CIA mit deutschen Top-Infos beeindrucken.
Bald wird allen klar, dass der Iraker nur Blödsinn geredet hat, doch die Bush-Regierung will unbedingt einen Kriegsvorwand – und die Deutschen kehren ihr Wissen unter den Teppich.
Johannes Naber inszeniert „Curveball“ als gelungene Mischung aus Politsatire und Agententhriller mit parodistischen Untertönen. Bei einer Schneeverfolgungsjagd mit Gamsbart und Rodel lässt James Bond lustig grüßen.
INFO: D 2020. 108 Min. Von Johannes Naber. Mit Sebastian Blomberg.
Filmkritik zu "The Bubble": Paradies oder Senioren-Ghetto?
„Glücklich ist, wer vergisst …“ hat hier weniger mit Operette zu tun als vielmehr mit Alzheimer. Die Rede ist von „The Villages“, einer der berühmt-berüchtigten Seniorensiedlungen in Florida. Dort gibt es keine Kriminalität. Und der Krankenwagen ist in weniger als fünf Minuten da. Die Stadt für Rentner wächst so schnell wie keine andere in den USA.
Paradies oder Senioren-Ghetto? Diese Frage stellt die Wienerin Valerie Blankenbyl in ihrer Doku, für die sie die Oase für betuchte Betagte näher untersucht hat. „The Villages“ wirken wie ein Kreuzfahrtschiff, auf dem der Amüsierbetrieb anhält, obwohl das Schiff längst auf dem Trockenen liegt.
Um die knapp 90 Quadratkilometer große, eingezäunte Siedlung herum ist Florida wenig ansehnlich. Viele Häuser sind zerfallen.
In der Rentnersiedlung aber stehen Palmen, die Straßen sind sauber, die Häuser tipptopp. Wenn die Sonne gerade so tief gesunken ist, dass sie noch wärmt, wenn es fürs Golfspielen zu spät, fürs Schlafengehen zu früh, für den ersten Mojito genau die richtige Zeit ist, rollt eine Karawane aus Golfkarts Richtung Dorfplatz. Dann warten sie auf den ersten Song und fangen an zu tanzen.
Trump-Anhänger
Tennisschläger, Boulekugeln und alles, was man zum Spielen braucht, kann man unentgeltlich per Selbstbedienung leihen. Für einen Moment hat man das Gefühl, dass es sich um ein sozialistisches Musterdorf handelt. Doch das Unterhaltungsangebot wird von den Bewohnern finanziert – und das kostet. 70 Prozent hier wählen die Republikaner. Donald Trump hat hier immer noch viele Anhänger.
Blankenbyl stellt diesem Idyll die Bedenken der Nachbarn gegenüber, die Schäden an der Umwelt und die Verdrängung der Biodiversität fürchten. Sie werden von den Bewohnern der „Villages“ kaum gehört. Denn Lärm ist verboten. Fast könnte man sagen, es herrscht dort Friedhofsruhe.
Text: Gabriele Flossmann
INFO: CH/Ö 2021. 92 Min. Von Valerie Blankenbyl. Mit Toni & Roger Akers. Jeanie & John Ferguson.
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