Filmkritik zu "Girl": Aufstehen im Spagat

Victor Polster (re.) als Transgender-Ballerina in "Girl"
Der herausragende Victor Polster als Transgender-Mädchen Lara, das eisern trainiert, um Balletttänzerin zu werden.

Kaum aufgewacht, werden schon die Muskeln trainiert. Wo andere sich erst einmal genüsslich strecken, sinkt die 15-jährige Lara sofort in den Spagat. Gnadenlos dehnt sie ihre Gliedmaßen, traktiert ihre Beine. Anschließend bohrt sich Lara im Badezimmer mit dem Ohrstecker ein Loch ins Ohrläppchen. Wer seinen Körper mit eiserner Disziplin zur Balletttänzerin ausbildet, ist an Schmerz gewöhnt.

Die Bezwingung des Leibes steht in dem Spielfilmdebüt des 28-jährigen flämischen Regisseurs Lukas Dhont gleich zweifach im Brennpunkt. Lara – geboren als Victor – empfindet sich als Frau, die in einem Männerkörper gefangen ist. Mit der weiblichen Hormonkur hat sie schon begonnen, die geschlechtsangleichende Operation steht noch bevor. „Ich will nur ein Mädchen sein“, beteuert sie ihrem verständnisvollen Vater, der die Wünsche seiner Tochter durchwegs unterstützt.

Zu den Strapazen der (hormonellen) Körperumwandlung kommt das harte Balletttraining. In einer der besten Tanzschulen Belgiens dreht Lara endlos Pirouetten und bohrt mit dem Spitzenschuh ihre schmerzenden Zehen in den Boden.

In seinem feinfühligen Coming-of-Age-Porträt verzichtet Lukas Dhont (fast) gänzlich auf die Brutalitäten eines verständnislosen Umfelds, mit dem sich noch Hillary Swank als Transgender-Junge in „Boys don’t cry“ herumschlagen musste. Vielmehr ist Laras Umgebung betont wohlwollend und unterstützend, getränkt in warme, honiggelbe Farben und zärtlich komponierte Bilder.

Gleichzeitig klebt sich die Kamera (allzu) fasziniert an Lara, die enigmatisch von dem talentierten belgischen Tänzer Victor Polster gespielt wird.

Keine Sekunde wird sie aus den Augen gelassen. Und nachdem klassisches Ballett den Inbegriff ästhetisierter Weiblichkeit und deren Perfektion darstellt, wirkt dieser Blick beinahe kontrollierend, zumal die Kamera sich ausschließlich auf Lara stürzt und alle anderen Figuren – abgesehen vielleicht von Laras Vater – in den Hintergrund verbannt.

Superheld

Doch Victor Polster lässt sich von dem glotzenden Blick nicht durchdringen, sein bleiches, blondes Gesicht bleibt weitgehend unentzifferbar. Wenn die anderen Mädchen der Ballettgruppe wissen wollen, wie Lara „unten herum“ aussieht – mit dem Argument: „Du siehst uns ja auch nackt“ –, verbirgt sie vor dem besorgten Vater ihre innere Not mit der falschen Behauptung, „ich habe Bauchweh.“ Die zunehmenden emotionalen Spannungen, die mit der Hormonkur, dem Trainingsstress und einer ersten erotischen Begegnung einhergehen gehen, dringen nur in Spurenelementen nach draußen.

Lukas Dhont erfuhr übrigens von dem Schicksal einer Transgender-Ballerina ganz zufällig aus der Zeitung. Schwerst beeindruckt, plante er daraufhin sein einprägsames Debüt – und bezeichnete „Girl“ als seinen ganz persönlichen Superhelden-Film.

INFO: BEL/NLD 2018. 109 Min. Von Lukas Dhont. Mit Victor Polster, Arieh Worthalter.

Filmkritik zu "Girl": Aufstehen im Spagat

Hartes Balletttraining an der Grenze des Erträglichen: "Girl"

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