Noch ist Kino nicht verboten. Aufgrund der Regierungsmaßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus werden nach letztem Informationsstand aber die Sitzplätze beschränkt. Bis zu 100 Personen dürfen die Kinosäle füllen – und wenn möglich sollte immer ein Sitz zwischen den Besuchern frei bleiben.
Grund genug, den Schritt in die Öffentlichkeit zu wagen, bietet das üppige Prachtwerk „Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão“, mit dem der brasilianische Regisseur und bildende Künstler Karim Aïnouz den Hauptpreis der Sektion „Un Certain Regard“ in Cannes gewann. Ein „tropisches Melodram“ nennt Aïnouz sein umwerfendes Schwestern-Drama, das im Rio de Janeiro der frühen Fünfzigerjahre seinen optimistischen Ausgang nimmt und sich dann ins Reich der (ungeweinten) Tränen verabschiedet.
Sehnsuchtsort Wien
Der größte Traum der jungen Eurídice Gusmão besteht darin, nach Wien zu gehen und dort Klavier zu studieren. Ihre ältere Schwester Guida hat einen kleineren Traum: Sie möchte mit einem griechischen Matrosen ausgehen und Sex mit ihm haben.
Guida erfüllt sich ihren Wunsch: Nachts schleicht sie aus dem Haus, geht mit dem Matrosen tanzen und brennt schließlich mit ihm nach Griechenland durch.
In sattem Melodramen-Technicolor – Blau, Rot, Gelb und Grün – entwirft Karim Aïnouz das charismatische Porträt zweier junger Frauen, deren enge Verbundenheit zerrissen wird und deren Leben sich von dieser Trennung nie wieder erholt.
Zwar kehrt Guida nach kurzer Zeit schwanger aus Griechenland zurück, doch ihr Vater wirft sie aus dem Elternhaus hinaus. Gleichzeitig verschweigt die Familie der mittlerweile verheirateten Schwester Eurídice, dass Guida wieder in Rio lebt.
Melodramen reißen uns das Herz aus dem Leib. Sie erzählen von verpassten Gelegenheiten, verfehlten Begegnungen, ungelesenen Briefen und heimlichen Tränen. Zudem ist Aïnouz’ „tropisches Melodram“ angereichert mit sinnlichen Fifties-Farben und dem Puls brasilianischer Rhythmen. Der Regisseur komponiert seine Bilder mit der Schönheit von Ölgemälden, reißt jedoch deren fantastische Oberflächen wiederholt auf, um dahinter die Abgründe eines kompromittierten Lebens zu zeigen. Da kann die sinnliche Musik in der Bar noch so inbrünstig schwelgen, der Sex am Klo bleibt schnell und schmutzig.
Während die verstoßene und verarmte Guida ihre Schwester im musikalischen Wien vermutet, befindet sich diese in ihrer Küche in Rio, eingequetscht zwischen Kind, Küche und Ehemann.
Die patriarchalen Verhältnisse stehen mit den Ich-Entwürfen der Frauen auf Kriegsfuß, verweisen sie in familiäre Schranken und prägen ihr Leben. Diese Beklemmungen schlagen sich in den sensibel dekorierten Innenräumen nieder, die Aïnouz in bester Melodramen-Manier sorgfältig mit Spiegeln verdoppelt oder durch Fenster- und Türrahmungen verengt.
„Du warst so vielversprechend, Eurídice“, klagt der Klavierlehrer, als seine schwangere Schülerin wieder einmal neben die Tasten haut. Von den Glücksversprechen, die sich nicht einlösen, davon erzählen die schönsten Melodramen. Es ist ihr unerbittliches „Zu Spät“, das uns immer wieder zum Weinen bringt.
INFO: Melodram. BRA/D 2019. Von Karim Aïnouz. Mit Julia Stockler, Carol Duarte, Flávia Gusmão
Filmkritik zu "Buñuel im Labyrinth der Schildkröten": Ohrfeige von Jungfrau Maria
Die Aufführung des Films „Das Goldene Zeitalter“ verursachte im Paris von 1930 einen veritablen Skandal. Danach befand sich der surrealistische Regisseur Luis Buñuel am Tiefpunkt seiner Karriere. Erst der Lottogewinn seines Freundes Ramón Acin ermöglicht ihm sein nächstes Projekt: Die Doku „Land ohne Brot“, in der Buñuel das Elend der Landbevölkerung in der spanischen Provinz Extremadura zeigen wollte.
Die Entstehungsgeschichte von Buñuels drittem Film erzählt Regisseur Salvador Simó als detailreich-witzigen, braungetönten Animationsfilm in 2D, basierend auf einem Comicbuch.
Angetrieben von Albträumen, in denen sein strenger Vater auftritt und ihm seine Mutter in Gestalt der Jungfrau Maria eine Ohrfeige verpasst, sucht Buñuel nach bildgewaltigen Einstellungen. Wenn die Realität nicht genug hergibt, wird nachgeholfen: Für dramatische Effekte schießt er eine Ziege vom Berg oder reißt einem Hahn den Kopf ab.
Salvador Simó konfrontiert seine Animation mit Realbildern von „Land ohne Brot“ und liefert dank dieses findigen Zusammenspiels eine surrealistische Interpretation von Filmgeschichte.
INFO: Animation. E/NL/D 2018. Von Salvador Simó. Mit Jorge Usón
Filmkritik zu "Honeyland - Land des Honigs": Etwas für euch, etwas für mich
Manchmal braucht es nur einige wenige Einstellungen – und schon kann ein Film die Zuschauer fesseln: Ein einsames Dorf der kargen Berglandschaft Mazedoniens. Zu den wenigen, dort verbliebenen Menschen gehören die 50-jährige Bienenjägerin Hatidze und ihre bettlägerige Mutter.
Honeyland
So unspektakulär deren Geschichte zunächst klingen mag, so spektakulär ist das Ergebnis. Denn angesichts der poetischen Bilder und einem Spannungsbogen, wie ihn sich kein Drehbuchautor besser hätte ausdenken können, kann man kaum glauben, hier einen Dokumentarfilm zu sehen.
Zunächst kann man Hatidze mit viel Muße bei ihrer friedvollen Tagesarbeit beobachten. An einer steilen Felswand entfernt sie eine Steinplatte. Darunter befindet sich ein Bienennest. Nur am Kopf geschützt, nicht aber an Armen und Beinen, entnimmt sie behutsam einige Honigwaben.
„Wunderbar“, sagt sie. Dann wendet sie sich den Bienen zu: „Etwas für euch, etwas für uns. Die Hälfte für dich, die andere für mich.“
Schnelles GeldIhr Tagesablauf kommt durcheinander, als sich eines Tages auf dem Nachbargrundstück eine Nomadenfamilie niederlässt. Ob es auch Honig gebe und wie hoch die Preise seien, will der Vater dieser Familie wissen. Er wittert im Verkauf dieses Honigs das schnelle Geld. Die Neuankömmlinge werden so zu einer Gefahr für die Bienenjägerin. Das ökologische Gleichgewicht ist bedroht.
Kunstvoll und doch nie prätentiös, erzählt „Land des Honigs“ eine universelle Geschichte von Ausbeutung und Nachhaltigkeit – und eine ganz persönliche und berührende von Hatizde. Der Dokumentarfilm-Oscar für diese Bienenstory war verdient.
Text: Gabriele Flossmann
INFO: Doku. MKD 2019. 89 Min. Von Tamara Kotevska, Ljubomir Stefanov. Mit Hatidze Muratova
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